VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 14.03.2006 - 9 TG 512/06 - asyl.net: M8520
https://www.asyl.net/rsdb/M8520
Leitsatz:

1. Ist es dem Beschwerdeführer gelungen, mit der Beschwerdebegründung die tragenden Gründe einer zu seinem Nachteil ergangenen erstinstanzlichen Entscheidung erfolgreich in Zweifel zu ziehen, ist das Beschwerdegericht durch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nicht gehindert und - soweit der Fall dazu Anlass bietet - sogar gehalten, zu prüfen, ob sich die angegriffene Entscheidung zwar nicht mit der Begründung des Verwaltungsgerichts, wohl aber aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig erweist (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung des Senats).

2. Die Berechnung des zur Sicherung des Lebensunterhalts eines erwerbsfähigen Ausländers notwendigen Bedarfs im Sinne der §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG ist an den einschlägigen Bestimmungen des Sozialgesetzbuches 2. Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954) - SGB II - zu orientieren.

3. Im Falle der Erwerbstätigkeit eines solchen Ausländers scheidet bei der Bedarfsermittlung zum Zwecke der Feststellung des Vorliegens der Erteilungsvoraussetzung nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG eine Reduzierung des zur Verfügung stehenden Einkommens um die nach §§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verbindung mit 30 SGB II abzusetzenden Freibeträge aus.

 

Schlagwörter: Beschwerde, Prüfungsumfang, Aufenthaltserlaubnis, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Einkommen, Anrechnung, Freibetrag, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 146 Abs. 4 S. 6; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1; SGB II § 11 Abs. 2 S. 2; SGB II § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 6; SGB II § 30; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

1. Ist es dem Beschwerdeführer gelungen, mit der Beschwerdebegründung die tragenden Gründe einer zu seinem Nachteil ergangenen erstinstanzlichen Entscheidung erfolgreich in Zweifel zu ziehen, ist das Beschwerdegericht durch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nicht gehindert und - soweit der Fall dazu Anlass bietet - sogar gehalten, zu prüfen, ob sich die angegriffene Entscheidung zwar nicht mit der Begründung des Verwaltungsgerichts, wohl aber aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig erweist (Bestätigung der ständigen Rechtsprechung des Senats).

2. Die Berechnung des zur Sicherung des Lebensunterhalts eines erwerbsfähigen Ausländers notwendigen Bedarfs im Sinne der §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG ist an den einschlägigen Bestimmungen des Sozialgesetzbuches 2. Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954) - SGB II - zu orientieren.

3. Im Falle der Erwerbstätigkeit eines solchen Ausländers scheidet bei der Bedarfsermittlung zum Zwecke der Feststellung des Vorliegens der Erteilungsvoraussetzung nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG eine Reduzierung des zur Verfügung stehenden Einkommens um die nach §§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verbindung mit 30 SGB II abzusetzenden Freibeträge aus.

(Amtliche Leitsätze)

 

Entgegen der von der Antragsgegnerin in dem angefochtenen Bescheid im Einzelnen begründeten Auffassung steht der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels an den Antragsteller nicht das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entgegen.

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels neben der Erfüllung der Passpflicht und der in Nr. 1 a bis Nr. 3 der Vorschrift aufgeführten weiteren Erteilungsvoraussetzungen in der Regel die Sicherung des Lebensunterhalts voraus. Nach der Begriffsbestimmung des § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Bei der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug werden Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen berücksichtigt (Satz 3 der Regelung).

Von der Erfüllung dieses Erfordernisses ist zu dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats auszugehen.

Im Hinblick auf die Berechnung des zur Sicherung des Lebensunterhalts eines Ausländers notwendigen Bedarfs orientiert sich der Senat in ständiger Rechtsprechung regelmäßig an den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches 2. Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954) - SGB II (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 2. Januar 2006 - 9 TG 2719/05 und 9 TP 2720/05 -). Für den Antragsteller und seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebende Ehefrau ergäbe sich aus den einschlägigen Bestimmungen dieses Gesetzes eine monatliche Regelleistung für die Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 621,-- € (= 90 % der doppelten Regelleistung pro Monat für Alleinstehende i. H. v. 345,-- €; vgl. dazu §§ 20 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 und 7 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Nr. 3 a SGB II). Durch diese Regelleistung wird der gesamte Bedarf zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts mit Ausnahme der Unterkunfts- und Heizkosten gemäß § 22 SGB II sowie der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung (§ 26 SGB II) beziffert. Ein gesonderter Zuschlag für einen unregelmäßig entstehenden Bedarf entfällt (vgl. dazu auch OVG Berlin, Beschluss vom 10. März 2005 - OVG 2 M 70.04 -, AuAS 2005, 110). Da der Antragsteller und seine Ehefrau monatliche Aufwendungen für Miete und Unterkunft in Höhe von 200 € nachgewiesen haben, beträgt der zur Deckung des Lebensunterhalts notwendige monatliche Bedarf in ihrem Fall insgesamt 821,-- €.

Das nach näherer Bestimmung des § 2 Abs. 3 Satz 3 AufenthG anrechenbare Einkommen der Ehefrau des Antragstellers aus unselbständiger Erwerbstätigkeit reicht aus, um diesen Bedarf der Eheleute im Fall der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Antragsteller ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu decken.

Der Antragsteller hat durch Vorlage eines von seiner Ehefrau mit der Firma L. Warenhaus AG am 20. Oktober 2005 geschlossenen Arbeitsvertrages und von Verdienstabrechnungen für die Monate November und Dezember 2005 sowie Januar 2006 im Hauptsacheverfahren nachgewiesen, dass seine Ehefrau aus diesem Beschäftigungsverhältnis ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.403,26 € erzielt, von dem ihr im Januar 2006 ein monatliches Nettoeinkommen von 1.091,73 € verblieb.

Zur Feststellung des zu berücksichtigenden Einkommens und eines etwaigen Mehrbedarfs ist von diesem der Ehefrau des Antragstellers mithin zur Verfügung stehenden Nettoeinkommen in Höhe von 1.091,73 € gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II ein Betrag von 100,-- € abzusetzen (pauschalisierte Berücksichtigung der nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 5 SGB II vom Einkommen abzurechnenden Beträge). Damit verbleibt dem Antragsteller und seiner Ehefrau ein anrechenbares Familieneinkommen von 991,73 €, das den familiären Lebensbedarf abdeckt.

Dagegen scheidet nach Auffassung des Senats im Zusammenhang mit der Bedarfsermittlung zum Zwecke der Feststellung der Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG eine weitere Einkommensreduzierung um die nach §§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i. V. m. 30 SGB II vom Einkommen abzusetzenden Freibeträge aus. Die Unterschreitung des monatlichen Mindestbedarfs um 11,44 €, die sich im Falle einer Berücksichtigung dieser Beträge vorliegend ergeben würde (991,73 € abzüglich 179,17 € [= 20 % von 800,-- € zuzüglich 10 % 191,73 €]; vgl. dazu § 30 Satz 2 SGB II), erweist sich danach in Bezug auf das Vorliegen dieses Erfordernisses als unschädlich. Es bedarf folglich auch keiner weiteren Erörterung, ob eine Diskrepanz zwischen Mindestbedarf und anrechenbarem Einkommen in dieser geringen Höhe geeignet ist, die an das Nichtvorliegen des Merkmals der Sicherung des Lebensunterhalts im Regelfall anknüpfende Rechtsfolge der Erlaubnisversagung auszulösen.

Maßgeblich für die Auslegung vorgenannter aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen in diesem Sinne spricht schon die unterschiedliche Zielrichtung, die der Gesetzgeber mit der Pauschalierungsregelung des § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II einerseits und der Berücksichtigung von Freibeträgen nach §§ 11 Abs. 2 Nr. 6, 30 SGB II andererseits verfolgt. Im ersten Fall handelt es sich nämlich um die - pauschale - Anrechnung solcher Beträge, in denen sich ein konkreter Bedarf ausdrückt, weil sie zur Vorsorge aufgewendet werden müssen und das zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehende Erwerbseinkommen deshalb tatsächlich schmälern. Demgegenüber geht der Sinn und Zweck der Minderung des zur Deckung des Existenzminimums an sich ausreichenden Erwerbseinkommens nach letztgenannter Bestimmung dahin, für erwerbstätige Hilfsbedürftige einen finanziellen Anreiz zur Aufnahme oder Beibehaltung von - auch nicht bedarfsdeckender - Erwerbstätigkeit zu schaffen. Derjenige, der arbeitet, soll mehr Geld zur Verfügung haben als derjenige, der trotz Erwerbsfähigkeit nicht arbeitet (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 30 SGB II, BT-Drs. 15/1638, 59 f.). Würde die danach eine Begünstigung beabsichtigende Norm im Rahmen der gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gebotenen Prognose fiktiv einkommensmindernd berücksichtigt, würde für den die Verfestigung seines Aufenthalts erstrebenden Ausländer statt der intendierten Besserstellung im Bereich des Ausländerrechts eine nachteilige Wirkung herbeigeführt. Dass der Gesetzgeber mit der Aufnahme der Freibetragsregelung in das SGB II eine solche erhebliche Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung eines Aufenthaltstitels für erwerbstätige Ausländer in den Blick genommen oder gar beabsichtigt hat, ist nicht erkennbar (vgl. dazu zutreffend auch VG Berlin, Urteil vom 23. September 2005 - VG 25 A 329.02 -, InfAuslR 2006, 21 ff.).

Eine andere Betrachtung gebietet auch nicht das von § 5 Abs. 1 Nr. 1 verfolgte gesetzgeberische Ziel, neu entstehende Soziallasten für die öffentliche Hand zu verhindern. Diesem bedeutsamen öffentlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland wird ausreichend bereits dadurch entsprochen, dass der Nachzug nur bei Sicherung des tatsächlich notwendigen materiellen Bedarfs durch eigene Mittel gewährt wird. Dem steht auch nicht entgegen, dass der die Erlaubniserteilung begehrende Ausländer aus der Freibetragsregelung der §§ 11 Abs. 2 Nr. 6, 30 SGB II für sich einen sozialrechtlichen Vorteil ableiten kann, wenn ihm rein rechnerisch ein Anspruch auf ergänzende öffentliche Sozialleistungen in Höhe der sich insoweit ergebenden Unterdeckung des familiären Mindestbedarfs zusteht (vorliegend in Höhe von 11,44 €). Sollte der Betreffende solche Leistungen ungeachtet faktisch zu bejahender Bedarfsdeckung tatsächlich in Anspruch nehmen, kann dem oben dargelegten Gesetzeszweck rechtlich bei der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels ausreichend durch den Verweis des Ausländers auf das Nichtvorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. 55 Nr. 6 und 7 AufenthG Rechnung getragen werden. Aus dem Regelungszusammenhang von § 55 Abs. 2 Nr. 6 und 7 AufenthG mit Absatz 1 der Regelung ist zu schließen, dass der Gesetzgeber bei Bezug öffentlicher Sozialleistungen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland erheblich beeinträchtigt sieht. Dies dürfte auch für ein längerfristigen Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II gelten (so zutreffend auch VG Berlin, a.a.O.).