VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 21.02.2006 - M 21 K 03.50460 - asyl.net: M8538
https://www.asyl.net/rsdb/M8538
Leitsatz:
Schlagwörter: Angola, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Somatierungsstörung, Retraumatisierung, medizinische Versorgung, alleinstehende Minderjährige, extreme Gefahrenlage, UN-Kinderrechtskonvention
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

4. Die Beklagte ist allerdings zu verpflichten, bei der Klägerin zu 1) und beim Kläger zu 2) das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

4.2. Sowohl bei der Klägerin zu 1) als auch beim Kläger zu 2) liegt jeweils ein individuelles krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot vor.

4.2.1. Im Hinblick auf die Klägerin zu 1) ist festzustellen, dass diese nach den vorliegenden fachlichen Stellungnahmen weiterhin an einer posttraumatischen Belastungsstörung nach F43.1 und einer Somatisierungsstörung nach F45.0 leidet, sich zwar auf dem Weg der Besserung befindet, eine endgültige Bewältigung der Störung jedoch noch nicht absehbar ist.

Angesichts des vorliegenden Sachverhaltes läge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann nicht vor, wenn die Klägerin zu 1) in ihrer Heimat eine gleichwertige ärztliche und sonstige fachliche Behandlung erhalten könnte und dabei eine Retraumatisierungsgefahr ausgeschlossen wäre. Dies ist nicht der Fall.

Aus dem oben genannten Lagebericht, dort unter IV. 1. A. und B. lässt sich nicht entnehmen, dass die Klägerin zu 1) hoffen kann, überhaupt adäquat eine psychotherapeutische Behandlung zu erhalten unabhängig davon, dass das Gericht aufgrund der vorliegenden Atteste davon ausginge, dass eine solche Behandlung wegen der Gefahr der Retraumatisierung ohnehin nicht in Angola durchgeführt werden dürfte.

Weiter kommt hinzu, dass die Klägerin zu 1) nach ihren glaubhaften Bekundungen keinen Kontakt zu irgendwelchen überlebenden Anverwandten hat, so dass auch nicht zu erwarten ist, dass irgendjemand für die Klägerin zu 1) irgendetwas im Sinne von Hilfe im weitesten Sinne tun würde. Angesichts des Jahrzehnte langen Krieges in Angola erscheint es dem Gericht nämlich äußerst glaubhaft, wenn die Klägerin zu 1) schildert, wie ihre Eltern umgekommen sind und es erscheint weiterhin äußerst glaubhaft, dass es sehr große Schwierigkeiten macht, überlebende Familienangehörige nach derartigen Kriegen rasch wieder zu finden.

Somit liegen für das Gericht zweifelsfrei hinreichende Tatsachen vor, die es rechtfertigen, die Beklagte zum Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verpflichten.

Ergänzend ist anzumerken, dass, wenn man entgegen der Auffassung des Gerichts von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausgehen würde, das Gericht das Vorliegen einer extremen Gefahr i.S. der allseits bekannten Rechtsprechung zur Vorgängervorschrift, nämlich § 53 Abs. 6 AuslG, ausgehen würde.

4.2.2. Auch beim Kläger zu 2) liegt ein individuelles krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.

Unabhängig davon verbietet sich eine Abschiebung des etwas älter als 13-jährigen Klägers zu 2) auch aus Gründen des Minderjährigenschutzes. Zwar lässt sich, entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten des Klägers zu 2), dieser Schutz nicht mit der Anwendung des UN-Kinderrechtskonvention begründen, weil Deutschland bei Ratifizierung dieses Abkommens seine Vorbehalte, die Konvention im Inland nicht anzuwenden, leider nicht aufgegeben hat und auch nicht ersichtlich ist, dass dies in absehbarer Zeit geschehen wird. Das Gericht möchte ausdrücklich betonen, dass es diese Einstellung Deutschlands als Skandal empfindet.

Ungeachtet dessen verbietet es die auf dem Grundgesetz beruhende Rechts- und Werteordnung, Minderjährige wie den Kläger zu 2), der ohne Eltern ist und dessen Angehörige nicht aufzufinden sind, in ein Land abzuschieben, das aufgrund der oben geschilderten Situation nicht in der Lage ist, ein kindgerechtes Aufwachsen zu gewährleisten. Das Gericht vertritt in ständiger Jahre langer Rechtsprechung die Auffassung, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG es verbieten, einen Minderjährigen wie den Kläger zu 2) in ein Land abzuschieben, in dem weder seine Menschenwürde i.S. eines Heranführen in ein eigenverantwortliches Leben garantiert ist noch aufgrund der oben geschilderten Umstände garantiert ist, dass sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht schwerwiegend beeinträchtigt wird. Dazu kommt, dass nach Art. 6 Abs. 2 GG Kinder einen besonderen Schutz genießen, den auch nichtdeutsche Kinder, in Deutschland weilend, beanspruchen können.