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LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 11.07.2006 - L 7 SO 19/06 ER - asyl.net: M8552
https://www.asyl.net/rsdb/M8552
Leitsatz:

Keine Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes bei Fiktion der Fortgeltung eines Aufenthaltstitels nach § 81 Abs. 4 AufenthG; keine Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes bei Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 S. 2 AufenthG.

 

Schlagwörter: D (A), Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz, Visum, Touristenvisum, Aufenthaltserlaubnis, Antrag, Fiktionswirkung, Fortgeltungsfiktion, Verlängerungsantrag, außergewöhnliche Härte, Einreisemotiv, Einreise, um Sozialhilfe zu erlangen, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 5; SGG § 86b Abs. 2; SGB XII § 23 Abs. 1; SGB XII § 23 Abs. 2; AufenthG § 6; AufenthG § 81 Abs. 4; AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2; AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 3; SGB XII § 23 Abs. 3
Auszüge:

Keine Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes bei Fiktion der Fortgeltung eines Aufenthaltstitels nach § 81 Abs. 4 AufenthG; keine Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes bei Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 S. 2 AufenthG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beschwerde der Antragsgegnerin richtet sich gegen ihre mit dem Beschluss des SG vom 9. Februar 2006 im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesprochene Verpflichtung, ab 23. Januar 2006 bis längstens 30. April 2006 an die Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung im Alter nach dem SGB XII als Darlehen zu gewähren mit dem Ziel, nur eine Verpflichtung auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erreichen.

Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Beschluss des erkennenden Senats vom 29. Juni 2005 - L 7 AS 1/05 ER; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 86b, Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist er Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - info also 2005, 166).

§ 23 Abs. 1 SGB XII sieht vor, dass Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten ist. Die Vorschriften des 4. Kapitels bleiben unberührt. Im Übrigen kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Einschränkungen nach Satz 1 gelten nicht für Ausländer, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines befristeten Aufenthaltstitels sind und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten. Rechtsvorschriften, nach denen außer den in Satz 1 genannten Leistungen auch sonstige Sozialhilfe zu leisten ist oder geleistet werden soll, bleiben unberührt. Gemäß § 23 Abs. 2 SGB XII erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes keine Leistungen der Sozialhilfe.

Bis zur Zustellung des ablehnenden ausländerrechtlichen Bescheids am 12. April 2006 galt das der Antragstellerin ursprünglich erteilte Touristenvisum nach § 6 AufenthG gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG aufgrund des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung als fortbestehend. Der aufenthaltsrechtliche Status, der mit der fortbestehenden Fiktionswirkung eines Touristenvisums verbunden ist, eröffnet aber nach der insoweit als abschließend anzusehenden Aufzählung des § 1 Abs. 1 AsylbLG nicht die Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der Einwand der Antragsgegnerin, die Fiktionsbescheinigung stelle keine Aufenthaltserlaubnis dar, vermag demgegenüber nicht durchzugreifen. Liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 AsylbLG nicht vor, ist nach § 23 Abs. 1 und 2 SGB XII die Anwendung des SGB XII eröffnet.

Gleiches gilt im Hinblick auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Insbesondere sind hierdurch nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG erfüllt.

Gemäß § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer für einen vorübergehenden Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis kommt von vorneherein nicht in Betracht, wenn der Ausländer einen Daueraufenthalt begehrt (vgl. Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21. Februar 2006 - 2 M 217/05; Verwaltungsgericht Lüneburg, Urteil vom 25. Januar 2006 - 5 AZ 34/05; Verwaltungsgericht Braunschweig, Beschluss vom 10. Januar 2006 - 6 B 432/05). Dies ist im Hinblick auf die Antragstellerin der Fall, die vorträgt, aufgrund ihres Krankheitsbildes nicht mehr in den Iran zurückkehren zu können.

Die Antragstellerin begehrt demgegenüber eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann eine Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 AufenthG verlängert werden, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls das Verlassen des Bundesgebietes für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde. Die Regelung schafft eine Ausnahmemöglichkeit für Fälle, in denen bereits ein rechtmäßiger Aufenthalt besteht und das Verlassen des Bundesgebietes für den Ausländer eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 28. Oktober 2005 - 24 C 05.2756; Oberverwaltungsgericht Niedersachsen, Beschluss vom 27. Juni 005 - 11 ME 96/05; Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Mai 2005 - 18 B 1207/04; vgl. auch die Gesetzesbegründung, Bundestags-Drucksache 15/420, S. 79 f.) Die Vorschrift regelt nicht nur die speziellen Verlängerungsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, sondern hat dieser gegenüber eigenständige Bedeutung. Obgleich § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG im selben Absatz wie § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geregelt ist, besteht zwischen beiden Vorschriften kein systematischer Zusammenhang (vgl. auch amtl. Begr., Bundestags-Drucksache 15/420, S.80). § 25 Abs. 4 Satz 1 gewährt ein nur vorübergehendes humanitäres Aufenthaltsrecht, ist also auf ihrer Natur nach zeitlich begrenzte Aufenthaltszwecke beschränkt und tritt insoweit an die Stelle der bisherigen Duldung nach § 55 Abs. 3 AuslG (vgl. amtl. Begr., a.a.O., S.79) Dagegen sieht § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vor, dass Ausländern, die bereits im Besitz einer anderen befristeten Aufenthaltserlaubnis waren, deren Voraussetzungen aber nicht (mehr) erfüllen, aus dringenden humanitären Gründen ein (auch) auf Dauer angelegtes (Folge-)Aufenthaltsrecht erteilt werden kann. Die Regelung entspricht damit inhaltlich weitgehend der bisherigen Möglichkeit zur Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis aus dringenden humanitären Gründen nach § 30 Abs. 2 AuslG (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. Februar 2005 - 11 S 1099/04).

Die Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG über § 25 Abs. 4 Satz 1 hinaus auch auf § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG kommt somit nicht in Betracht. Dass Ausländern mit einem Aufenthaltsstatus nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz eröffnet sind, hingegen Ausländern mit einem Aufenthaltsstatus nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gemäß § 23 Abs. 1 und 2 SGB XII Leistungen nach dem SGB XII, korrespondiert mit den dargelegten unterschiedlichen Voraussetzungen und Regelungsinhalten dieser Normen.

Der Senat geht auch von dem Bestehen eines Anordnungsgrundes aus. Wenn, wie vorliegend, ein Anordnungsanspruch im Hinblick auf die Bewilligung von SGB XII-Leistungen glaubhaft gemacht wurde, steht der Eilbedürftigkeit die Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht entgegen. Die Frage, ob ein Anordnungsgrund im Hinblick auf begehrte SGB XII Leistungen bestehen kann, wenn fortwährend Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bewilligt werden (so: Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. März 2006 - L 3 ER 11

37/06 AY; Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 6. September 2005 - S 3 B 199/05 ; Sozialgericht Hildesheim, Beschluss vom 25.05.2005 - S 34 AY 8/05 ER; a.A.: Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen; Beschluss vom 20. Dezember 2005 - L 20 (9) B 37/05; Sozialgericht Würzburg, Beschluss vom 25. Februar 2005 - S 15 AY 2/0), ist - soweit ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht wird und der Ausgang des Verfahrens deshalb nicht als offen anzusehen ist - zu bejahen. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigt dann keine Verweisung auf das Asylbewerberleistungsgesetz, wenn, wie vorliegend, ganz überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. Aufgrund des bereits dargelegten funktionalen Zusammenhangs zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund vermindern sich in einem solchen Fall die Anforderungen an die Eilbedürftigkeit. In der Regel ist dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Jedenfalls diese geminderten Anforderungen rechtfertigen es im Hinblick auf die Differenz zwischen begehrten Leistungen nach dem SGB XII und bewilligten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die Eilbedürftigkeit zu bejahen.