Nichtstaatliche Verfolgung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG setzt einen gewissen Organisationsgrad des nichtstaatlichen Verfolgungsakteurs voraus; keine staatliche Herrschaftsgewalt in Afghanistan; keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus; § 60 Abs. 7 AufenthG für Rückkehrer ohne Unterstützung durch die Großfamilie, insbesondere für allein stehende Frauen; keine Behandelbarkeit von psychischen Erkrankungen; medizinische Grundversorgung nicht gewährleistet.
Nichtstaatliche Verfolgung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG setzt einen gewissen Organisationsgrad des nichtstaatlichen Verfolgungsakteurs voraus; keine staatliche Herrschaftsgewalt in Afghanistan; keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus; § 60 Abs. 7 AufenthG für Rückkehrer ohne Unterstützung durch die Großfamilie, insbesondere für allein stehende Frauen; keine Behandelbarkeit von psychischen Erkrankungen; medizinische Grundversorgung nicht gewährleistet.
(Leitsatz der Redaktion)
2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950).
b) Im Fall ihrer Rückkehr in ihr Heimatland droht den Klägern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG durch den afghanischen Staat bzw. durch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen. Machtgebilde, die eine übergreifende Friedensordnung errichtet haben und daher im Gegenzug zu einer derartigen Verfolgung fähig sind, bestehen in Afghanistan derzeit nicht, so dass politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG dort nicht stattfindet.
Die Kläger unterliegen bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure". Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Taliban als "nichtstaatliche Akteure" in den Landesteilen, in denen sie sich gegenwärtig offenbar reformieren, zu einer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG in der Lage sind, ist es jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger landesweit von einer solchen Verfolgung bedroht sind. Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan in Gefahr gerieten, von Angehörigen der Taliban in asylrechtlich erheblicher Weise behandelt zu werden. Die Kläger haben auch nicht im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Hindus mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch sonstige "nichtstaatliche Akteure" zu befürchten. Zwar unterliegen Hindus in Afghanistan z. T. gravierender Diskriminierung (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 22; Danesch, Gutachten an das VG Wiesbaden vom 7. und 18.11.2003 sowie vom 5.2.2004; Gutachten zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan vom 23.1.2006). Referenzfälle, die nach ihrer Intensität und ihrer Anzahl Verfolgungsschläge gegen in Afghanistan lebende Hindus im Sinne einer Gruppenverfolgung erkennen lassen würden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.9.1992 - 9 B 130.92 -, InfAuslR 1993, 31), sind dem Gericht jedoch nicht bekannt.
4. Die Kläger haben jedoch einen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG.
Die Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan stellt sich für alle Rückkehrer im Wesentlichen gleich und somit als allgemeine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar. Ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht daher unter diesem Gesichtspunkt nicht. Die im Land Niedersachsen bis zum 30.6.2005 für afghanische Staatsangehörige geltende Anordnung gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG (RdErl. des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 27.12.2004, Nds. MBl. 2005, S. 108) ist nicht verlängert worden. Den Klägern steht jedoch ein Anspruch auf Abschiebungsschutz bei verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG zu, denn sie müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in Afghanistan Gefährdungen der oben genannten Schutzgüter ausgesetzt zu werden.
Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist die wirtschaftliche Situation zurückkehrender Flüchtlinge in Kabul angespannt. Sie ist dadurch geprägt, dass die ohnehin kaum vorhandene Infrastruktur durch die große Anzahl von Rückkehrern belastet wird, die Wohnungsmieten steigen und die Lage auf dem Arbeitsmarkt desolat ist (vgl. zur allgemeinen Lebenssituation in Afghanistan Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 31; Arendt-Rojahn u. a., a.a.O., S. 15 ff. und S. 22 ff.; Danesch, Gutachten vom 24.7.2004 an das OVG Bautzen, S. 46 ff. und Gutachten zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan vom 23.1.2006). Eine Rückkehr, ohne in den Schutz einer Familie aufgenommen zu werden, erscheint unter diesen Umständen äußerst schwierig. Die Bedeutung der Familie in Afghanistan geht weit über die verwandtschaftlichen Beziehungen der europäischen Kernfamilie hinaus. Sie übernimmt die soziale Absicherung ihrer Mitglieder und hat überlebenswichtige Funktion bei der Versorgung und Pflege im Krankheitsfall und bei der Betreuung von Frauen und Kindern. Auch die Schwierigkeit, eine Unterkunft zu finden, lässt sich ohne die Hilfe eines Familienverbandes kaum bewältigen.
Die Kläger können sich nach ihrer Rückkehr nicht in den Schutz einer Großfamilie begeben. Sie könnten daher in Afghanistan nur überleben, wenn es der Klägerin zu 1) gelingen würde, eine Existenzgrundlage für alle Familienmitglieder zu schaffen. Dies erscheint bereits deshalb ausgeschlossen, weil es für Frauen in Afghanistan praktisch keine Arbeit gibt (Danesch, Gutachten vom 24.7.2004 an das OVG Bautzen, S. 47). Im Übrigen ist es nach den Erkenntnissen des Gerichts für alleinstehende Frauen nicht möglich, sich in Kabul oder anderen Gebieten Afghanistans niederzulassen (Terre des Femmes e. V., Stellungnahme zur Situation alleinstehender Frauen in Afghanistan vom 16.1.2006). Hinzu kommt im Fall der Kläger, dass ihre Situation durch ihre Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Hindus verschärft wird. Zwar existiert in Kabul noch eine kleine Gruppe Hindus als Rest einer einstmals nach Zehntausenden zählenden Minderheit. Die Kläger könnten jedoch nicht mit einer Unterstützung durch ihre Glaubensgenossen rechnen, da diese wegen der Notwendigkeit, zur Vermeidung von Übergriffen zurückgezogen zu leben (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 20, sowie Danesch, Gutachten zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan vom 23.1.2006), in ihren Erwerbsmöglichkeiten noch in erheblich stärkerem Maße beschränkt sind, als dies bei der übrigen, gleichfalls ums Überleben kämpfenden Bevölkerung ohnehin der Fall ist. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass die noch in Afghanistan lebenden Hindus bereit oder in der Lage wären, aus dem Ausland zurückkehrenden Hindu-Familien Zuflucht und eine Existenz zu bieten (vgl. Danesch, Gutachten vom 23.1.2006, S. 43). Dies gilt auch für Gebiete außerhalb Kabuls, da es dort so gut wie keine Restbestände der ehemaligen hinduistischen Minderheit mehr gibt, bei denen die Kläger Zuflucht finden könnten.
Hinzu kommt, dass die Klägerin zu 1) nach den überzeugend begründeten Erkenntnissen des Dipl.-Psych. L. M. (Gutachten vom 10.4.2006, zusammenfassend: S. 49 ff.) unter einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer "Schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome" leidet.
Im Fall einer Rückkehr der Klägerin zu 1) in ihr Heimatland wäre es nicht möglich, ihre Erkrankung adäquat zu behandeln. Die medizinische Grundversorgung ist in Afghanistan völlig unzureichend. Es gibt keine Basisversorgung und der Zugang zur Krankenversorgung ist nicht sicher gewährleistet. In Kabul und den größeren Städten gibt es zwar Krankenhäuser und auf dem Papier ist die Behandlung dort kostenlos. Tatsächlich wird aber nur behandelt, wer Beziehungen hat, bestechen kann oder wohlhabend ist. Medikamente sind in "Apotheken" zu erwerben, die nicht unter behördlicher Aufsicht stehen und fast ausschließlich von pharmazeutischen Laien oder ehemaligem Pflegepersonal betrieben werden. Diese beziehen die Medikamente aus dem Grenzgebiet zu Pakistan, wo in erheblichem Umfang Medikamente "gefälscht" werden, in denen die Wirkstoffe nicht in der richtigen Menge oder Zusammensetzung enthalten sind. Viele Medikamente sind gar nicht erhältlich. Staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht bekannt. Besondere Defizite bestehen im Bereich der Behandlung psychischer Erkrankungen. Die Situation im Gesundheitswesen führt dazu, dass Alte und Kranke, die nicht in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt und ihre Versorgung selbst aufzukommen, außerhalb der Versorgung durch eine Großfamilie - sofern diese in der Lage ist, die Kosten für die medizinische Behandlung zu übernehmen - kaum Überlebenschancen haben (vgl. zur Situation alter und kranker Menschen in Afghanistan Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 31 f.; Arendt-Rojahn u.a., a.a.O., S. 8, S. 12 f. und S. 23 f.; Danesch, Gutachten vom 24.7.2004 an das OVG Bautzen, S. 42 ff.; Terre des Femmes e. V., a.a.O.).