§ 60 Abs. 7 AufenthG bei schwerer posttraumatischer Belastungsstörung wegen Gefahr der Retraumatisierung und der fehlenden Behandelbarkeit im Kosovo.
§ 60 Abs. 7 AufenthG bei schwerer posttraumatischer Belastungsstörung wegen Gefahr der Retraumatisierung und der fehlenden Behandelbarkeit im Kosovo.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerinnen können die hier nach pflichtgemäßem Ermessen allein mögliche Entscheidung der Beklagten gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG beanspruchen, unter Abänderung des entgegenstehenden Ausspruchs im unanfechtbaren Bescheid vom 19. April 2002 nunmehr das Bestehen von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Die Klägerin zu 1) leidet nach den in sich stimmigen, nachvollziehbaren und überzeugenden Stellungnahmen der Dipl.-Psychologin L. vom 16. September 2004, 25. Januar und 1. März 2005, der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie M. vom 17. Februar 2005 und des Ethno-Medizinischen-Zentrums e.V. in Hannover vom 8. Dezember 2005 unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung nach Traumatisierung bzw. bei Zustand nach Opfer sexualisierter Gewalt. Zudem besteht nach dem überzeugenden Gutachten vom 8. Dezember 2005 ein Verdacht auf Übergang in eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung und eine schwere depressive Störung und psychotische Symptome mit latenter Suizidalität. Die schwere psychische Erkrankung der Klägerin zu 1) findet ihre Ursache darin, dass sie durch einen Polizist in ihrem Haus vergewaltigt worden ist. Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im angegriffenen Bescheid vom 1. Juni 2005 steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die entsprechenden Angaben der Klägerin zu 1) glaubhaft sind und der Wahrheit entsprechen. So waren bereits die Schilderungen der Klägerin zu 1) bzw. ihres Ehemannes anlässlich der Anhörung an 4. Dezember 2000 in sich stimmig und glaubhaft, soweit es das Eindringen serbischer Polizisten in das Schlafzimmer der Klägerin zu 1) betraf. Soweit der Ehemann der Klägerin zu 1) damals angegeben hatte, seine Frau sei nicht vergewaltigt worden, so beruhte dies auf Erzählungen der Klägerin zu 1). Insoweit ist es für das Gericht nachvollziehbar und überzeugend, dass die Klägerin zu 1) damals die erlittene Vergewaltigung gegenüber ihrem Ehemann noch nicht offenbart hatte. Denn gerade Opfer von Vergewaltigungen leiden unter schwerer Scham und Angst und sind vielfach nicht in der Lage, das wirklich Erlittene zu offenbaren. Die Angaben der Klägerin zu 1) zu der erlittenen Vergewaltigung sind auch deshalb glaubhaft, weil sie in die Erkenntnisse der Psychologin L. bezüglich der schweren psychischen Erkrankung der Klägerin zu 2) passen. Denn die Klägerin zu 2) ist nach den stimmigen, nachvollziehbaren und überzeugenden Angaben der Klägerin zu 1) damals Zeugin der Vergewaltigung geworden und wurde ihr mit einem Klebeband der Mund verschlossen, damit sie nicht schreien konnte.
Nach den vorliegenden ärztlichen und psychologischen Beurteilungen steht für das Gericht fest, dass die Klägerin zu 1) ohne die notwendige Traumatherapie und psychiatrische Behandlung wieder in eine lebensbedrohliche gesundheitliche Krise geraten würde. Dies gilt erst recht bei einer Rückkehr in ihr Heimatland. Wenn sich die Klägerin schon in Deutschland von dem traumatisierenden Erlebnis nicht lösen kann, bereits bei dem Gedanken an eine Rückkehr in Panik und Suizidalität gerät und bei diesen Anlässen das traumatische Erlebnis sie immer wieder neu überrollt, ist diese Gefahr aufgrund der besonderen psychischen Situation der Klägerin zu 1) um ein Vielfaches stärker vorhanden, wenn sie zurück in ihr Heimatland gehen müsste. Allein das Bewusstsein, wieder in dem Land zu sein, in dem der Übergriff stattgefunden hat, würde die Klägerin zu 1) extrem belasten. Das Gericht geht nach alledem davon aus, dass es bei einer Rückkehr eine große Anzahl traumaspezifischer Trigger geben würde und sich diese Trigger bei einer Rückkehr in ihr Heimatland aufgrund der Schwere der Erkrankung der Klägerin zu 1) gegen ihrem Vorhandensein im Bundesgebiet noch steigern würden. Zur Überzeugung des Gerichts wäre dies unabweisbar. Daraus leitet sich aber wiederum die hohe Gefahr einer schwerwiegenden Retraumatisierung mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome gegenüber dem jetzigen ohnehin schon sehr angegriffenen Gesundheitszustand der Klägerin zu 1) ab. Deshalb steht zur Überzeugung des Gerichts zweifelsfrei fest, dass sich die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr in ihr Heimatland in kurzer Zeit völlig aufgeben würde. Damit liegt aber eine konkrete erhebliche und extreme Gefahrenlage für die Klägerin zu 1) vor.
Daneben ist das Gericht - selbständig tragend - davon überzeugt, dass sich die Krankheit der Klägerinnen in ihrem Heimatland auch allein deshalb in erheblicher Weise verschlimmern würde, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend oder für sie nicht erreichbar sind. Nach den vorliegenden Erkenntnissen sind posttraumatische Belastungsstörungen in Serbien und Montenegro einschließlich des Kosovo nicht adäquat behandelbar. Insbesondere würden die Klägerinnen, die nach den vorgelegten und bereits wiedergegebenen Stellungnahmen auf eine regelmäßige psychotherapeutische und psychologische Behandlung zwingend angewiesen sind, diese Behandlungen in ihrem Heimatland nicht erhalten könne. Nach den aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes für Serbien und Montenegro und den Kosovo werden posttraumatische Belastungsstörungen in der Regel vorrangig medikamentös behandelt. Psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten bestehen nur in äußerst begrenztem Umfang und existieren bei der ambulanten psychiatrischen Behandlung im öffentlichen Gesundheitswesen erhebliche Engpässe. Auch die Zahl der privat praktizierenden Fachärzte für Psychotherapie sind sehr begrenzt und müssten die entsprechenden Kosten überdies von den Patienten selbst getragen werden (vgl. Lageberichte für Serbien und Montenegro vom 23. September 2005 und 28. Februar 2006 und für den Kosovo vom 30. August und 22. November 2005; selbst das Bundesamt teilt in einer Stellungnahme vom 13. Oktober 2005 an LABO Berlin dieses Einschätzung). Die unzureichende Gesundheitsversorgung wird auch durch die Stellungnahme von Frau Dr. Susanne Schlüter-Müller vom 20. Mai 2005 sowie das Positionspapier des UNHCR vom März 2005 bestätigt. Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerinnen in ihrem Heimatland im öffentlichen Gesundheitswesen eine adäquate Behandlung nicht erlangen können. Auf die Inanspruchnahme privatärztlicher Behandlung können die Klägerinnen schon deshalb nicht verwiesen werden, weil sie über die erforderlichen Finanzmittel nicht verfügen.