OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 27.01.2006 - 1 LB 22/05 - asyl.net: M8574
https://www.asyl.net/rsdb/M8574
Leitsatz:

Inländische Fluchtalternative im Irak bei Gefahr der Blutrache.

 

Schlagwörter: Irak, Gebietsgewalt, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, nichtstaatliche Akteure, Verfolgungsbegriff, Familie, Clans, Blutrache, soziale Gruppe, interne Fluchtalternative, Nordirak, Zentralirak, Südirak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 2; RL 2004/83/EG Art. 6; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Inländische Fluchtalternative im Irak bei Gefahr der Blutrache.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Der Kläger kann entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts keine Flüchtlingsanerkennung i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG beanspruchen.

Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Schutzbereich des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG umfasst den des Art. 16a Abs. 1 GG (vgl. [zu § 51 Abs. 1 AuslG a. F.] BVerwG, Urt. vom 18. Febr. 1992, 9 C 59.91, DVBl 1992, 843) und geht in § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG darüber hinaus, indem auch eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure schutzbegründend sein kann.

b) Gruppen, die i. S. d. § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. b "wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen", sind im Irak nicht festzustellen. Zwar lassen sich bzgl. der menschenverachtenden Selbstmordattentate und Terroranschläge militanter oppositioneller oder krimineller Gruppen, Clans oder von Einzelpersonen gewisse Häufungen im sog. "sunnitischen Dreieck" beobachten (Lagebericht des AA vom 24.11.2005, zu II.1), doch ergibt sich daraus nur eine erhöhte Gefährdung in dem betroffenen Gebiet, keinesfalls aber eine Teil-Beherrschung des Staatsgebiets. Abgesehen davon betreffen die aus solchen Anschlägen oder aus sonstigen Übergriffen Dritter resultierenden Gefährdungen generell alle Bürgerinnen und Bürger des Landes; eine Teil-Gebietsgewalt ist daraus ebenso wenig zu entnehmen wie ein individueller, den Kläger betreffender Verfolgungsgehalt i. S. d. § 60 Abs. 1 AufenthG.

c) Der Kläger kann auch aus § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG keinen Schutz beanspruchen. Er hat - zwar - geltend gemacht, als ältester Sohn der Familie sei er der Gefahr einer Verfolgung (Blutrache) durch Angehörige der Familie oder Sippe ausgesetzt, der die (angeblich) von seinem Vater erschossenen beiden Bauern zuzurechnen sind ("Sindi"). Daraus ist indes kein Schutzanspruch abzuleiten. Der Senat kann insoweit die tatsächlichen Angaben des Klägers - zur angeblichen Tat seines Vaters, zur Zugehörigkeit der Getöteten zum Stamm (Sippe) der "Sindi", zur Gefährdung wegen Blutrache im Irak (vgl. dazu Auskunft des AA an VG Münster vom 02.02.2004, Stellungnahmen H. u. E. Savelsberg an VG Regensburg v. 20.07.2003 und an VG Greifswald vom 28.07.2003, Stellungnahme des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien an Rechtsanwalt W. vom 21.01.2004) und dazu, dass die Angehörigen der Getöteten Blutrache üben wollen und auch wissen, gegen wen sie diese richten wollen - als wahr unterstellen. In rechtlicher Hinsicht ist indes zweifelhaft, ob die Familien- oder Sippenmitglieder der getöteten Bauern als "nichtstaatliche Akteure" i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 4 c) AufenthG anzusehen sind (unten a). Jedenfalls würde eine von diesen ausgehende "Verfolgung" des Klägers nicht an ein schutzbegründendes Merkmal nach § 60 Abs. 1 AufenthG anknüpfen (unten b). Zudem wäre es dem Kläger möglich, sich innerhalb des Irak einer Verfolgung zu entziehen, indem er die Gegend um Raschidie, bzw. Zakho (Nordirak) meidet und sich im Bereich einer sicheren innerstaatliche Fluchtalternative im Irak aufhält (unten c).

a) Es spricht Vieles dafür, dass bereits im rechtlichen Ansatz eine - wie hier - durch private Auseinandersetzungen ("Fehden" o. ä.) ausgelöste Verfolgung durch Privatpersonen (Familien- oder Sippenmitgliedern) wegen Blutrache nicht als Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG anzusehen ist.

Der Begriff des "nichtstaatlichen Akteurs" ist allerdings weder in § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG noch in den zugrunde liegenden Art. 2 und 6 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG) näher definiert worden. Auch die Gesetzesmaterialien zu den genannten Vorschriften vermitteln zu der Frage, ob "nichtstaatliche Akteure" auch Einzelpersonen sein können, keinen Aufschluss. Die Annahme, der Gesetzgeber habe dem Begriff des "nichtstaatlichen Akteurs" einen Inhalt geben wollen, der demjenigen der sog. "Staatenpraxis" im Bereich der EG entspricht, führt ebenfalls nicht weiter. Es ist nach den Erkenntnissen des Senats schon keine einheitliche Staatenpraxis feststellbar (Schreiben des Bundesinnenministeriums vom 07.12.2005). Abgesehen davon kann der Inhalt eines Gesetzesbegriffs nicht "dynamisch" aus der Praxis anderer Staaten abgeleitet werden.

Aus einer systematischen Auslegung des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG ergibt sich indes, dass "Akteure", die - wie hier - allein im Vollzug einer privaten Blutrache tätig werden, nicht in den Anwendungsbereich der Norm fallen: Indem § 60 Abs. l AufenthG gleichermaßen Schutz vor staatlicher (Satz 4 lit. a), staatsähnlicher (a.a.O., lit. b) und nichtstaatlicher Verfolgung (a.a.O., lit. c) bietet, wird eine bestimmte "Qualität" der Gefahr vorausgesetzt, die mit der Verfolgung verbunden ist. In den Fällen staatlicher bzw. staatsähnlicher Verfolgung liegt die Gefahr in der Organisation der Verfolgung, der die Verfolgten im ganzen Land oder zumindest in den beherrschten Landesteilen ausgesetzt sind und die wegen dieser Organisation nachhaltig und "engmaschig" angelegt ist. Eine derartige Verfolgung führt zu einer "Ausgrenzung" des Betroffenen, aus der nur noch die Flucht einen Ausweg bietet. Eine Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" ist in ihrer "Qualität" den in § 60 Abs. 1 S. 4 lit. a und lit. b AufenthG genannten Verfolgungen nicht gleichzusetzen, wenn sie von einem kleineren, privat abgrenzbaren Personenkreis ausgeht. In diesem Fall fehlt den "Verfolgern" - typisierend betrachtet - eine den Verfolgern nach Satz 4 lit. a und b vergleichbare Gefährlichkeit. Bei einer privaten Verfolgung durch Familien- oder Sippenmitglieder ist davon in aller Regel auszugehen; sie wirkt auch nicht in gleicher Weise ausgrenzend, wie dies in den Fällen der staatlichen oder staatsähnlichen Verfolgung der Fall ist. Die "Ausgrenzung" bleibt auf den Bereich der betroffenen Familien oder "Clans" beschränkt.

Es kann allerdings nicht für alle Fälle ausgeschlossen werden, dass "nichtstaatliche Akteure" im Sinne der genannten Vorschrift auch Einzelpersonen oder kleinere Gruppen sein können. Dies kommt etwa in Betracht, wenn die "nichtstaatlichen Akteure" einen Grad an Organisation entwickeln, der - im genannten Sinne - gefahrerhöhend wirkt, oder wenn sie - als Einzel-"Akteure" - von religiösen oder ideologischen Organisationen oder Bewegungen offen oder "geheim" gleichsam getragen oder unterstützt werden. Bei einer Privatfehde zwischen bäuerlichen Familien oder Sippen in einem örtlich begrenzten Bereich ist dies auch dann nicht der Fall, wenn in den örtlichen "Traditionen" noch Privatrache anzutreffen ist.

b) Unabhängig davon, ob der Kläger von "nichtstaatlichen Akteuren" bedroht oder gefährdet wäre, würde diese Gefährdung nicht an eines der nach § 60 Abs. 1 AufenthG geschützten Rechtsgüter Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung anknüpfen.

In Betracht käme - vorliegend - allein, die Familie des Klägers als eine "soziale Gruppe" i.S.d. § 60 Abs. 1 S.1 AufenthG anzusehen, als deren "Mitglied" der Kläger (sodann) durch die von der anderen Familie (Clan o. ä.) ausgehenden Blutrache bedroht wäre.

Eine Definition des Begriffs der "sozialen Gruppe" ist weder dem Gesetz noch den zugrunde liegenden Gesetzesmaterialien zu entnehmen. Aus der sog. Staatenpraxis werden verschiedene Ansätze zur Bestimmung einer "sozialen Gruppe" i.S.d. Art. 1 A Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention berichtet. Danach wird darauf abgestellt, ob die Gruppe ein unveräußerliches und unveränderbares Merkmal teilt oder ob die Betroffenen ein gemeinsames Merkmal aufweisen, welches sie zu einer erkennbaren, von der Gesellschaft unterscheidbaren Gruppe macht. Die Gruppenangehörigen müssen von der jeweiligen Gesellschaft als eine andersartige Gruppe wahrgenommen werden (vgl. UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz: "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" im Zusammenhang mit Art. 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge -HCR/GIP/02/02-, II. A (Überblick über die staatliche Praxis); vgl. auch Art 10 Abs. 1 d) der Richtlinie 2004/83EG). Eine Gruppe i. S. der genannten Schutznormen muss in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität aufweisen. Diese Abgrenzbarkeit muss schon vor der - in Rede stehenden - Verfolgung bestehen.

Unter Zugrundelegung dieser - gleichermaßen für die Genfer Flüchtlingskonvention als auch für § 60 Abs. 1 AufenthG maßgeblichen - Kriterien ist ein Familie oder ein "Verband" von Verwandten ("Clan") in aller Regel nicht als "soziale Gruppe" im Sinne des Flüchtlingsschutzes anzusehen. Zwar kann man davon ausgehen, dass eine Familie durch die alle Mitgliedern verbindende Verwandtschaft ein unveränderbares Merkmal teilt (so auch Marx, AufenthG, Komm., § 60 Rn. 155, 158). Doch wird eine Familie nicht als von der übrigen Gesellschaft deutlich abgrenzbare Gruppe mit eigener ("Gruppen"-) Identität wahrgenommen. Denkbar ist eine solche, für andere tatsächlich erkennbare Abgrenzbarkeit bei der Zugehörigkeit zu einem größeren Stamm, wenn (etwa) die Zugehörigkeit zu einem Stammesverbund regional einen besonderen Stellenwert hat und auch identifikationsstiftend wirkt. Im Fall des Klägers treffen derartige Gesichtspunkte nicht zu. Er wird von den Angehörigen der beiden getöteten Bauern allein als Angehöriger der Familie des "Täters" bedroht; nur von diesen, nicht auch von (irgend welchen) anderen Bürgerinnen und Bürgern im Irak wird er in diesem Sinne "unterscheidend" wahrgenommen. Die Unterscheidung, die - auf Grund der als wahr unterstellten (s. o.) - Blutrache getroffen wird, entsteht somit erst durch die Verfolgungshandlung. Ein solcher Fall liegt nicht im Anwendungsbereich des in § 60 Abs. 1 AufenthG geschützten Rechtsguts.

c) Der Kläger könnte - wiederum unabhängig von den o. g. Gründen - einer privaten Verfolgung durch die Angehörigen des "Sindi"-Clans (-Familie) auch durch die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG - hinreichend sicher - entkommen.

Seinem bisherigen Vorbringen ist nichts darüber zu entnehmen, ob die noch im Irak lebenden übrigen Familienmitglieder Gefährdungen ausgesetzt waren, nachdem der Vater des Klägers und der Kläger selbst (2003) den Irak verlassen haben. Unabhängig davon ergibt sich kein Anhaltspunkt - auch nicht für eine dahin gehende Ausforschung - dafür, dass der "Sindi"-Clan (-Familie) willens oder in der Lage ist, (gerade) den Kläger landesweit aufzuspüren, zu stellen und anzugreifen.

2. Der Kläger kann sich nicht auf das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG berufen.

Eine durch Blutracheabsichten einer anderen Familie bzw. eines Clans entstehende Gefährdung kann - im rechtlichen Ausgangspunkt - im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG Relevanz erlangen (vgl. [zu § 53 Abs. 6 S. 1 AusIG a. F.] z. B. OVG Lüneburg, Beschluss v. 06. März 2000, 9 L 3275/99, NVwZ-Beilage 2001, 19; Urteil v. 12. September 2001, 2 L 1082/00, InfAuslR 2002, 154). In tatsächlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass die Praxis der Blutrache in den ländlichen Gegenden des Nord-Irak auch heute noch verbreitet ist (vgl. Hajo u. Savelsberg, Stellungnahme an das VG Regensburg vom 20.7.2003). Mit der Blutrache wird eine kollektive Bestrafung für die vorangegangene Tötung des Mitglieds einer anderen Familie erstrebt; entweder wird der Täter selbst oder auch ein naher Verwandter getötet. Entscheidend ist, dass die Täterfamilie den gleichen Verlust erleidet wie die Opferfamilie. Die Opfer müssen nach Geschlecht und Religion gleichwertig sein. Ist das Opfer ein männlicher Muslim, kann die "Blutbilanz" nur durch die Tötung eines "gleichwertigen" Familienmitglieds ausgeglichen werden. Blutrache kann sofort oder auch nach Jahren geübt werden und eventuell auch durch Zahlung eines "Blutgeldes" abgegolten werden (Auskunft des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien an Rechtsanwalt W. v. 21. Januar 2004; vgl. auch OVG Lüneburg, Beschluss v. 06. März 2000, 9 L 3275/99, juris).

Für den Fall des Klägers fehlen tragfähige Grundlagen für die Annahme, dass er bei einer Rückkehr in den Irak einer nach § 60 Abs. 7 AufenthG erforderlichen landesweiten konkreten Gefährdung ausgesetzt wäre. Für den aus dem Nordirak - Region Zakho - stammenden Kläger würde sich der übrige Nordirak, aber auch der Zentral- und der Südirak als eine - grundsätzlich zumutbare - inländische Fluchtalternative darstellen (vgl. BVerwG, Urteil v. 8. Dezember 1998, 9 C 17.98, DVBl. 1999, 551, Urteil vom 16. 1. 2001, 9 C 16.00, juris).

Im Hinblick auf die Versorgungslage im Irak kann auch nicht mehr von einer (extremen) existenziellen Gefährdung des Klägers bei dessen Rückkehr in den Irak ausgegangen werden. Mit der Wiederaufnahme des "Oil for Food"-Programms" und durch den Einsatz von Hilfsorganisationen ist eine Mindestversorgung der Bevölkerung im Irak gewährleistet. Dies gilt selbst für Rückkehrer ohne familiäre oder sonstige Beziehungen (vgl. Beschluss des Senats vom 30. Oktober 2003, 1 LB 39/03, juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 30.03.2004, 9 LB 5/03, AuAS 2004, 153).