VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 14.07.2006 - M 16 K 06.50463 - asyl.net: M8588
https://www.asyl.net/rsdb/M8588
Leitsatz:

Ausnahmsweise keine inländische Fluchtalternative in Russland, wenn sich ein vorverfolgt ausgereister, traumatisierter Tschetschene zur Erlangung eines Inlandspasses zeitweise nach Tschetschenien begeben müsste.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Glaubwürdigkeit, traumatisierte Flüchtlinge, posttraumatische Belastungsstörung, Vorverfolgung, interne Fluchtalternative, Inlandspass, Passbeschaffung, Krankheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Ausnahmsweise keine inländische Fluchtalternative in Russland, wenn sich ein vorverfolgt ausgereister, traumatisierter Tschetschene zur Erlangung eines Inlandspasses zeitweise nach Tschetschenien begeben müsste.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist erfolgreich. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist - soweit angefochten - rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Eine derartige Bedrohung ist nach Überzeugung des Gerichts für die Klägerin jedoch festzustellen. Ihr Vortrag ist - auch wenn sie offenbar unbehelligt über Rußland ausreisen konnte - glaubhaft. Unbeachtlich kann insofern bleiben, dass der Vortrag der Asylgründe vor der Beklagten anlässlich deren Anhörung wesentlich von dem Vortrag bei "Refugio" und anlässlich des gerichtlichen Verfahrens abwich. Es ist aufgrund der - zwischen den Parteien unstreitigen - Diagnose der Traumatisierung, einhergehend mit einer Persönlichkeitsveränderung hinreichend plausibel, dass die festgestellte Erkrankung der Klägerin Ursache war, die sie davon abhielt, von dem traumatischen Ereignis von Anfang an zu berichten, was bei diesem Krankheitsbild typisch ist.

Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung sowie nach den Ausführungen der Klägerin auf nachgelassene Schriftsatzfrist ist das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimat in Leben bzw. Freiheit wegen eines asylerheblichen Merkmals bedroht wäre. So steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin offenbar aufgrund ihrer Vor-Aktivitäten bei der Kontrolle im August 2002 in das Visier russischer Soldaten gekommen war, was diese veranlasste, sie zu befragen, zu bedrohen und zu erniedrigen. Diese Handlungsweise erwies sich nicht als bloßer Exzess bzw. Zufall anlässlich klägerischer Auseinandersetzungen, sondern knüpfte vielmehr an politische Überzeugung, Herkunft und Geschlecht der Klägerin an. Die Klägerin wurde in Zusammenhang gebracht mit dem tschetschenischen Widerstand, die Verfolgungshandlungen knüpften an ihre Aktivitäten.

Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation verwiesen werden. Zwar hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (etwa Urteil vom 31.1.2005, Az 11 B 02.31597) - der sich das erkennende Gericht in seiner darauf erfolgenden Kammer-Rechtsprechung auch anschloss - ausgeführt, dass Tschetschenen grundsätzlich in weiten Teilen der Russischen Föderation vor asylrechtlich relevanten Maßnahmen der russischen Staatsgewalt sowie solcher nichtstaatlicher Akteure, deren Verhalten sich die russische Föderation nach § 60 Abs. 1 Satz 4 b und c AufenthG zurechnen lassen müsste, hinreichend sicher sind. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat jedoch auch ausdrücklich in der vorzitierten Entscheidung ausgeführt, dass (dort 6.) gesondert und sorgfältig zu prüfen sei, ob nicht die Schwierigkeiten und die Verzögerungen, die ein Angehöriger des Volkes der Tschetschenen in Kauf nehmen müsse, um in den hierfür in Betracht kommenden Landesteilen einen legalen Aufenthalt zu begründen, ihn in eine ausweglose Lage bringen kann. In seiner Entscheidung vom 19. Juni 2006 (Az. 11 B 02.31598) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof unter Berücksichtigung der Auskünfte des Auswärtigen Amtes an den BayVGH sowie das VG Berlin (vom 3.3.2006, Az. 508-516.80-44374 sowie vom 22.11.2005, Az. 508-516.80-44143) im Wesentlichen ausgeführt, dass es grundsätzlich zumutbar sei, sich zur Beschaffung eines neuen Inlandspasses, der zur Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation berechtigt, für wenige Tage nach Tschetschenien in den Ort der bisherigen Registrierung zurück zu begeben und dass (S. 15ff. UA) das Risiko, in dieser Zeit politischer Verfolgung ausgesetzt zu sein, an der Kürze der notwendigen Aufenthaltsdauer (minimal 2 Tage) zu bemessen sei.

Für den nicht zu verallgemeinernden Einzelfall der Klägerin ist es jedoch auch unter Zugrundelegung der Nr. 3 der vorzitierten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. März 2006 nicht zumutbar, auch für wenige Tage zurückzukehren, als die Klägerin - wie dargelegt - vorverfolgt ausgereist ist und bereits in das Visier russischer Truppen geraten war. Eine kurzzeitige Rückkehr wäre daher - dies etwa auch im Gegensatz zu ihrer Tochter und ihrem Ehemann (Klägerin des Verfahrens M 16 K 06.51320 und Kläger zu 1) des Verfahrens M 16 K 05.51341) - mit existentiellen Gesundheitsgefährdungen verbunden. Zudem erscheint es fraglich, ob es die Klägerin tatsächlich wird bewältigen können, die Passangelegenheit in dem oben skizzierten knappen Zeitrahmen zu erledigen. Dagegen spricht ihre Erkrankung sowie die (Wieder-)Konfrontation mit russischen Behörden.