VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 24.11.2005 - 9 L 628/05 - asyl.net: M8591
https://www.asyl.net/rsdb/M8591
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Duldung, Aufenthaltserlaubnis, vorübergehender Aufenthalt, vorübergehende Gründe, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit, Kinder- und Jugendhilfe, Ausreise, Unmöglichkeit, abgelehnte Asylbewerber, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Ablehnungsbescheid, Ausländerbehörde, Bindungswirkung, Kindeswohl, Verhältnismäßigkeit, Abschiebung, Härtefallregelung, Aufenthaltsdauer, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthG § 25 Abs. 4 S. 1; AufenthG § 25 Abs. 5; AsylVfG § 24 Abs. 2; AsylVfG § 42 S. 1; SGB VIII § 6 Abs. 2; AufenthG § 23a Abs. 1; GG Art. 20; VwGO § 123; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16. September 2005 gegen die Versagung einer vorübergehenden Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 4, 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) anzuordnen, ist bereits unzulässig. Dem Verpflichtungswiderspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis kommt von vornherein keine aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 VwGO zu, die gerichtlich angeordnet oder wiederhergestellt werden könnte. Zwar ist im Aufenthaltsrecht ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO dann statthaft, wenn mit der Ablehnung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zugleich die durch die Antragstellung bewirkte Fiktion eines erlaubten Aufenthalts nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, einer ausgesetzten Abschiebung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG oder eines als fortbestehend geltenden Aufenthaltstitels nach § 81 Abs. 4 AufenthG erloschen ist. Voraussetzung für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage ist in diesen Fällen jedoch, dass dem abgelehnten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels eine der benannten Fiktionswirkungen auch tatsächlich zukam.

Der Hilfsantrag nach § 123 VwGO, dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu untersagen, die Antragsteller bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 4, 5 AufenthG abzuschieben, ist zulässig, aber unbegründet.

Die Antragsteller haben offensichtlich weder einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung des Antragsgegners über ihren Erteilungsantrag.

Zwar dürften entsprechend der Antragsbegründung die Nr. 25.4.1.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz vom 22. Dezember 2004 (Az.: PG ZU - 128 406) und die dem entsprechende Auffassung des Antragsgegners kaum haltbar sein. Danach soll § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, wonach einem Ausländer für einen vorübergehenden Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, solange dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche Interessen eine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern, bereits deshalb unanwendbar sein, weil sich diese Bestimmung aus systematischen Gründen im Gegensatz zu § 25 Abs. 5 AufenthG nur auf noch nicht vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer beziehe. Der Gesetzeswortlaut enthält eine solche Einschränkung auf noch nicht vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer jedoch nicht, obwohl die Aufnahme eines negativen Tatbestandsmerkmals der "nicht vollziehbaren Ausreisepflicht" ohne weiteres möglich gewesen wäre. Die Auffassung des Bundesministeriums des Innern in seinen Vorläufigen Anwendungshinweisen, dass vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer abschließend von den spezielleren Anspruchsgrundlagen des § 23a und des § 25 Abs. 5 AufenthG erfasst würden, erscheint keineswegs zwingend.

Die Frage der Anwendbarkeit des § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auf vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer bedarf vorliegend jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da es jedenfalls an dem Erfordernis eines nur vorübergehenden Aufenthalts fehlt. § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ermöglicht bereits nach seinem eindeutigen Gesetzeswortlaut bei dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen nicht einen zeitlich unbegrenzten weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet, sondern lediglich einen vorübergehenden Aufenthalt, und dies auch nur, wenn die benannten Gründe eine lediglich vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Wird ein Daueraufenthalt bzw. ein zeitlich nicht absehbarer Aufenthalt im Bundesgebiet angestrebt, kann eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht beansprucht werden. Dies bedeutet, dass aus der Sicht der Ausländerbehörde zum Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bei einer Ex-ante-Prognose mit einem Wegfall des Ausreisehindernisses zu rechnen ist. Der Ausländer hat gegenüber der Ausländerbehörde darzulegen, dass er nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis freiwillig ausreisen wird, was regelmäßig nicht anzunehmen ist, wenn ein dauerhafter Aufenthalt im Bundesgebiet angestrebt wird (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 27. Juni 2005 - 11 ME 96/05 -, a.a.O.; Lüke, ZAR 2004, 397, 398; Benassi, InfAuslR 2005, 357, 359).

Im Übrigen kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragsteller beabsichtigen, nach einem vorübergehenden weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet sodann freiwillig ihrer Ausreisepflicht nachzukommen.

Ebenfalls unanwendbar dürfte die Anspruchsgrundlage des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG sein, wonach einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechen ist.

Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise ergibt sich insbesondere nicht aus einem Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG wegen der Gefahr einer politischer Verfolgung kann generell nur durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (bis zum 31. Dezember 2004: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) in einem Asylverfahren nach den Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) und nicht durch den Antragsgegner als zuständiger Ausländerbehörde festgestellt werden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die Würdigung zielstaatsbezogener Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG fällt nach Stellung eines Asylantrages gemäß § 24 Abs. 2 AsylVfG ebenfalls in die ausschließliche Prüfungskompetenz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Die Antragsteller sind alle rechts- bzw. bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber. Damit ist der Antragsgegner gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG an die (negative) Feststellung des Bundesamtes gebunden (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58/96 -, E 105, 383 ff; OVG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 7. März 2005 - 4 B 6/05 - m.w.N.).

Der mit einer Ausreise zwingend verbundene Abbruch der Unterbringung des Antragstellers zu 3. in der Heilpädagogischen Kinder und Jugendwohnanlage ... verstößt auch nicht gegen § 1 Abs. 1 SBG VIII, wonach jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Nach § 6 Abs. 2 SGB VIII können Ausländer Leistungen nach diesem Buch nur beanspruchen, wenn sie rechtmäßig oder aufgrund einer ausländerrechtlichen Duldung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Damit setzen jugendhilferechtliche Ansprüche einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet mit einem Aufenthaltstitel bzw. zumindest einen geduldeten Aufenthalt voraus und begründen gerade nicht umgekehrt ausländerrechtliche Ansprüche auf einen Aufenthaltstitel oder zumindest Duldung zwecks Inanspruchnahme von Leistungen der Jugendhilfe.

Ein Anspruch auf Fortsetzung der begonnenen heilpädagogischen Maßnahmen ergibt sich ferner auch weder unmittelbar aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG noch aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderschutzkonvention) vom 20. November 1989 oder dem Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (Haager Minderjährigenschutzabkommen) vom 5. Oktober 1961. Dass ein weiterer Verbleib des Antragstellers zu 3. im Bundesgebiet im Interesse des Kindeswohls zwingend geboten wäre, ist weder glaubhaft gemacht noch sonst ersichtlich. Anders als in den von den Antragstellern in Bezug genommenen Entscheidungen des VG Frankfurt/Main (s. Urteil vom 24. November 1993 - 5 E 11833/93 -, NVwZ 1994, 1137 f.) und des VG Arnsberg (s. Beschluss vom 7. Mai 1996 - 5 L 1598/95.A -, InfAuslR 1996, 285 f.) steht vorliegend keine Abschiebung eines Kindes ohne die Eltern oder sonstiger Bezugspersonen in ein Heimatland an, in dem das Kind nach Durchführung der Abschiebung völlig auf sich selbst gestellt wäre und insbesondere ohne Fürsorge, Schutz und Betreuung durch die Eltern eine Unterkunft und eine Lebensgrundlage finden müsste.

Der im Rahmen der Prüfung einer rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise zu beachtende rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit allen staatlichen Handelns (vgl. hierzu insb. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Zuwanderungsgesetz vom 16. Januar 2003, Bundesratsdrucksache 22/03, S. 180 zu § 25 Abs. 6 des Gesetzentwurfs, wonach bei der Frage, ob eine Ausreisemöglichkeit besteht, auch die subjektive Möglichkeit und damit implizit auch die Zumutbarkeit der Ausreise zu prüfen sein soll) verpflichtet die zuständige Ausländerbehörde kraft Gesetzes nicht zu einer allgemeinen Härtefallprüfung. Allein der Umstand, dass ein Festhalten an der Ausreisepflicht bestimmte Ausländer härter treffen mag als andere ebenfalls ausreisepflichtige Ausländer begründet für sich allein keine Unverhältnismäßigkeit. Das ausdifferenzierte System des AufenthG von unterschiedlichsten Anspruchsgrundlagen zu unterschiedlichen Aufenthaltszwecken verleiht allein aufgrund einer nicht zwingenden lediglich von den Betroffenen so empfundenen Unzumutbarkeit der Ausreise kein Bleiberecht. Zu der Anordnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abweichend von den an sich im AufenthG festgelegten Erteilungs- und Verlängerungsvoraussetzungen ist nur die oberste Landesbehörde und nur dann befugt, wenn eine von der Landesregierung durch Rechtsverordnung eingerichtete Härtefallkommission darum ersucht (§ 23 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG).

Auch der von den Antragstellern im Wesentlichen nicht zu vertretene langjährige Aufenthalt im Bundesgebiet vermag für sich allein keine Unzumutbarkeit der Ausreise zu begründen.

Eine vollständige Integration, die die Antragsteller ungeachtet ihrer türkischen Staatsangehörigkeit faktisch zu Inländern hat werden lassen und die ggfs. eine Rückkehr in einen zwischenzeitlich völlig fremden Kulturkreis als schlechterdings unzumutbar erscheinen lassen könnte, ist nicht dargelegt.

§ 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG, wonach eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn die Abschiebung - wie vorliegend im Falle der Antragsteller - bereits seit 18 Monaten ausgesetzt ist, beinhaltet keine selbständige Anspruchsgrundlage des Inhalts, dass nach einer 18monatigen Duldung ohne weitere tatbestandliche Voraussetzungen, insbesondere auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen der Sätze 1 und 3, allein aufgrund des vergangenen Zeitraums im Regelfall stets eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen wäre (so aber Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275, 279). Diese Regelung knüpft aufgrund ihrer systematischen Stellung erkennbar an § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG an. Sie setzt somit das Vorliegen dessen tatbestandlicher Voraussetzungen voraus und hat zur Vermeidung von Kettenduldungen lediglich die Bedeutung, dass die dort vorgesehene Rechtsfolge ("kann") im Sinne eines "soll" modifiziert wird, sofern das weitere Tatbestandsmerkmal der Aussetzung der Abschiebung seit 18 Monaten erfüllt ist. Eine weitgehende "Altfallregelung", dass bereits nach einer nur 18monatigen Duldung unabhängig von den Duldungsgründen - von atypischen Sonderfällen abgesehen - stets ein Daueraufenthalt im Bundesgebiet ermöglicht wird, ist offensichtlich nicht bezweckt (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 6. April 2005 - 11 S 2779/04 -, a.a.O.; Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, Nr. 25.5.2).