VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.06.2006 - 11 S 2299/05 - asyl.net: M8593
https://www.asyl.net/rsdb/M8593
Leitsatz:

Zur Ausweisung von türkischen Arbeitnehmern (Anpassung der Rechtsprechung des Senats an die Rechtsprechung des BVerwG).

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Unionsbürger, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, örtliche Zuständigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt, Haft, Zustimmung, Wechsel der örtlichen Zuständigkeit, Ausländerbehörde, Verfahrensrecht, Verfahrensmangel, Widerspruchsverfahren, Stellungnahme einer zuständigen Stelle, dringender Fall, Drogendelikte, Ermessen, Entscheidungszeitpunkt, Heilung, Gemeinschaftsrecht
Normen: RL 65/221/EWG Art. 9 Abs. 1; AAZuVO § 4 Abs. 3; VwVfG § 3 Abs. 3; AGVwGO § 6a; StPO § 456a; VwVfG § 46; VwVfG § 45 Abs. 1 Nr. 5; VwVfG § 45 Abs. 2; RL 2004/38/EG Art. 38 Abs. 2;
Auszüge:

Zur Ausweisung von türkischen Arbeitnehmern (Anpassung der Rechtsprechung des Senats an die Rechtsprechung des BVerwG).

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Eine unter Verstoß gegen die Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG

ergangene Ausweisungsverfügung ist wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig (wie BVerwG, Urteile vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110 ff., und vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 ff.). Ist das Verwaltungsverfahren abgeschlossen, vermag an der Rechtswidrigkeit der Verfügung auch die spätere Aufhebung der RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG (mit Wirkung vom 30.04.2006) nichts zu ändern. Dies gilt ungeachtet dessen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , NVwZ 2005, 224 ff., und - 1 C 30.02 -, NVwZ 2005, 220 ff.) für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist; denn dieser Zeitpunkt ist (nur) für die Überprüfung der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen maßgeblich, nicht aber dafür, welches Verfahrensrecht im Verwaltungsverfahren anzuwenden ist.

2. Es stellt - vorbehaltlich des Vorliegens eines "dringenden Falls" - eine Verletzung von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG dar, wenn im Ausweisungsverfahren gegen einen nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weder ein

Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst im Verwaltungsverfahren eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie eingeschaltet wird (wie BVerwG, Urteile vom

13.09.2005 und 06.10.2005, a.a.O., unter Aufgabe der Senatsrechtsprechung in den Urteilen vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, VBlBW 2004, 481 ff., und vom 15.05.2005 - - 11 S 2966/04 -).

2. Maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob ein "dringender Fall" i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorliegt, ist die Sachlage zu dem Zeitpunkt, zu dem die Behörde ihre Ausweisungsentscheidung zu treffen hat.

3. Bei der Dringlichkeitsprüfung im Rahmen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist darauf

abzustellen, ob eine Verzögerung der Ausweisungsentscheidung durch die Einschaltung einer "zweiten Stelle" hinnehmbar ist. Ob sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr vor Abschluss des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens realisiert, ist (demgegenüber) für die Entscheidung über die Anordnung des Sofortvollzuges maßgeblich.

4. Ob ein "dringender Fall" i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen hat, bei dem die Einschaltung einer "zuständigen Stelle" i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG entbehrlich war, unterliegt der vollen verwaltungsgerichtlichen Überprüfung.