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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 16.06.2006 - 26 K 1747/06.A - asyl.net: M8625
https://www.asyl.net/rsdb/M8625
Leitsatz:

Asylanerkennung eines Kurden aus der Türkei nach Festnahme und Folter und nicht eingehaltener Zusage, als Informant zu arbeiten; keine inländische Fluchtalternative für vorbelastete Personen; Ermittlungsverfahren werden als gezielte Sanktion eingesetzt, auch wenn eine Verurteilung unwahrscheinlich ist.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Festnahme, Newroz, Folter, Terrorismusverdacht, Spitzeldienste, politische Entwicklung, Ermittlungsverfahren, Strafverfahren, interne Fluchtalternative
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Asylanerkennung eines Kurden aus der Türkei nach Festnahme und Folter und nicht eingehaltener Zusage, als Informant zu arbeiten; keine inländische Fluchtalternative für vorbelastete Personen; Ermittlungsverfahren werden als gezielte Sanktion eingesetzt, auch wenn eine Verurteilung unwahrscheinlich ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. November 2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat nach der gem. § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter und auch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Das Gericht hat auf Grund des Vorbringens des Klägers die erforderliche Überzeugung erlangt, dass dieser aus der Türkei vor unmittelbar drohender staatlicher asylrelevanter Verfolgung ausgereist ist und im Falle seiner Rückkehr in die Türkei vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher wäre. Der erforderliche kausale Zusammenhang zwischen dem vom Kläger bezeichneten Ereignis der Festnahme nach dem Newrozfest 2002 als fluchtauslösend und seiner tatsächlichen Ausreise im Mai 2004 kann nicht verneint werden, da die politische Verfolgung anlässlich seiner Teilnahme am Newrozfest 2002 deshalb nicht beendet war, weil der Kläger aus Furcht vor weiteren Folterungen den Polizisten der Anti-Terrorabteilung seine informatorische Mitarbeit zwar zugesagt hatte, dann aber in Istanbul untergetaucht war. Erst als sich auch Istanbul nicht mehr als inländische Fluchtalternative eignete, verließ er die Türkei aufgrund seiner Angst vor erneuter Festnahme und Folter. Der Kläger, der nach dem in der mündlichen Verhandlung von seiner Person gewonnenen Eindruck glaubwürdig ist, hat durch einen detailreichen und in sich widerspruchsfreien Vortrag glaubhaft gemacht und unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig geschildert, dass er nach dem Newrozfest 2002 in Tunceli festgenommen und unter dem Vorwurf des Terrorismus in menschenrechtswidriger Weise unter Einsatz körperlicher Gewalt verhört wurde und aus Angst vor weiterer Folter der Anti-Terrorabteilung seine Mitarbeit zugesagt hat. Wenn der Kläger auch in Istanbul keine umfassende illegale Tätigkeit entfaltet hat, die ihn gezielt einer konkreten Strafverfolgung der Behörde aussetzte, so muss er doch jederzeit damit rechnen, wegen der in Tunceli gegebenen aber nicht eingehaltenen Zusage der Zusammenarbeit mit der Anti-Terrorabteilung festgenommen und wiederum in erheblicher Weise körperlicher Gewalt ausgesetzt und damit menschenrechtswidrig behandelt zu werden. Für diese Einschätzung ist auch ausschlaggebend, dass es in der Türkei bei der Umsetzung der eingeleitet umfangreichen Reformen nach wie vor erhebliche Defizite gibt. In der Praxis ist dabei die türkische Justiz einer der neuralgischen Punkte bei der Implementierung der Reformen. Der hierfür erforderliche Mentalitätswandel hat bislang die Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht vollständig erfasst. Insgesamt besteht unter türkischen Juristen die Ansicht, dass die Maßstäbe bei der Strafverfolgung innerhalb der Türkei immer noch ziemlich uneinheitlich und teilweise unberechenbar sind. Wenn auch die Gerichte sehr oft freisprechen und somit den Staatsanwaltschaften Grenzen setzen, bestand und besteht der Eindruck, dass Ermittlungsverfahren teilweise gezielt als Sanktion eingesetzt wurden und werden, auch wenn eine Verurteilung jeweils unwahrscheinlich ist. So wurden z.B. gegen den neugewählten Bürgermeister von Diyarbakir in seiner 7-jährigen Amtszeit als Vorsitzender des dortigen IHD insgesamt 220 Ermittlungsverfahren eingeleitet, von denen allerdings keines zu einer rechtskräftigen Verurteilung führte. Schließlich ist es bislang auch nicht gelungen, flächendeckend Folter und Misshandlungen zu unterbinden. Ebenso wenig ist es bisher gelungen, Fälle von Folter und Misshandlungen in dem Maße einer Strafverfolgung zuzuführen, wie dies dem Willen der Regierung entspricht (vgl. zu Vorstehendem den Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2005, S. 6, 8, 10, 22 und 31).

Schließlich bestand für den Kläger auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Westen der Türkei. Bei vorbelasteten Personen besteht nämlich die ernst zu nehmende Möglichkeit, bei routinemäßigen Personenkontrollen, die auch in der West-Türkei häufig stattfinden, festgenommen und menschenrechtswidrig behandelt zu werden, mögen sich die Verhältnisse in den letzten Jahren insoweit auch erheblich verbessert haben.