VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 31.05.2006 - 5 A 209/05 - asyl.net: M8626
https://www.asyl.net/rsdb/M8626
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Retraumatisierung, Situation bei Rückkehr, medizinische Versorgung, allgemeine Gefahr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Kläger hat aber gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Feststellung, dass in seinem Fall hinsichtlich der Türkei ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (bisher § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) besteht.

Nach den Ausführungen in den im Laufe des Klageverfahrens vorgelegten ärztlichen Gutachten steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger an einer sog. posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leidet. Hierbei handelt es sich um ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot.

Bei der sog. posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Gemäß der Festlegung im Standard ICD - 10 F 43.1 (International Classification of Deseases, 10. Fassung 1993) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsteht die posttraumatische Belastungsstörung als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Nach fachärztlichen Erfahrungen tritt eine PTBS regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis ein. Typische Kernsymptome einer PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, sogenannte "Intrusionen", die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal mit allen Körperreaktionen wie in der Ursprungssituation (Schreien, Körperhaltung) nacherlebt (flash backs). Aber auch die Vermeidung traumaassoziierter Aktivitäten oder von Situationen, die Erinnerungen an das schreckliche Erleben wachrufen können, zählen ebenso dazu wie ein andauerndes Gefühl des Betäubtseins bzw. emotionaler Stumpfheit oder vegetative Übererregungssymptome, zu denen beispielsweise Schlafstörungen, Angst, erhöhte Reizbarkeit, Schreckhaftigkeit zählen. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung oder aus anderen Gründen, Apathie und anderes mehr. Je nach individueller Disposition kann die Erkrankung gut behandelbar sein. Aber auch ohne ärztliche Behandlung kann eine Selbstheilung durch Außeneinflüsse wie beispielsweise die Familie einsetzen. Bei wenigen Betroffenen kann die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf nehmen und je nach Ausmaß der Funktionsstörungen zu einer andauernden Persönlichkeitsveränderung führen (vgl. zum Vorstehenden Nds. OVG, Beschl. v. 28.2.2005 - 11 LB 121/04 - unter Hinweis auf: Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2004, 150; Marx, Humanitäres Bleiberecht für posttraumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, InfAuslR 2000, 357 f.). Die posttraumatische Belastungsstörung als solche führt für sich genommen noch nicht zur Gewährung von Abschiebungsschutz. Erforderlich ist vielmehr, dass sich die Erkrankung bei Rückkehr ins Heimatland verschlimmert.

In der Rechtsprechung wird diskutiert, ob je nach Herkunft Traumatisierte einer Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG (nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) angehören können. Dies wird teilweise bei einer bürgerkriegsbedingten Traumatisierung, die eine Vielzahl von Personen betrifft, bejaht (vgl. hierzu OVG Schleswig, Beschl. v. 06.12.1999 - 9 Q 299/98 -; in diesem Sinne auch OVG Hamburg, Beschl. v. 02.04.2003 - 3 BS 439/02 -, Asylmagazin 2003, S. 33; a. A. OVG Münster, Beschl. v. 19.11.1999 - 19 B 1599/98 -, OVG Saarland, Beschl. v. 20.09.1999 - 9 Q 286/98 -, OVG Rh.-Pf., Urt. v. 23.09.2003 - 7 A 10186/03 - Asylmagazin 2004, 33, wonach derjenige, der infolge individueller Kriegserlebnisse traumatisiert ist, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sein kann). Diese Frage bedarf im vorliegenden Verfahren jedoch keiner Vertiefung. Denn zureichende Anhaltspunkte, dass in der Türkei eine ganze Bevölkerungsgruppe infolge von Übergriffen staatlicher Sicherheitsbehörden traumatisiert ist, liegen nicht vor.

Nach dem vom Kläger nunmehr im Laufe des Klageverfahrens vorgelegten ärztlichen Atteste und Gutachten stellt seine Rückführung in die Türkei im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in höchst anzunehmendes Risiko dar, weil hierdurch erneute Belastungen und damit verbunden Retraumatisierungen hervorgerufen würden, die das gesamte Krankheitsbild lebensbedrohlich verschlechtern würden. Grund für seine psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen ist nach den ausführlichen und überzeugenden ärztlichen Stellungnahmen ein Vorfall in der Türkei aus dem Jahre 1997. Seinerzeit ist ein Freund des Klägers während einer gemeinsamen Festnahme durch die Polizei während einer Reifenpanne auf der Straße getötet worden.

Der Kläger wäre demnach bei einer Rückkehr in die Türkei einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt. Zwar gibt es in der Türkei Behandlungsmöglichkeiten für psychisch Erkrankte und zwar auch für an einer posttraumatischen Belastungsstörung Leidende. Grundsätzlich ist die Situation psychisch Kranker in der Türkei allerdings gekennzeichnet durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter Versorgungsangebote (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei v. 01.06.2004, Anlage "Medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei"). Trotz dieser grundsätzlich gegebenen Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen würde die Rückkehr des Klägers in die Türkei aufgrund der Besonderheit des Falles jedoch für ihn eine erhebliche Gefahr darstellen. Eine Behandlung in der Türkei ist ausweislich der vorgelegten Gutachten aus fachpsychiatrischer Sicht kontraindiziert und seine Erkrankung würde sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebensbedrohlich verschlechtern. Daraus leitet sich aber wiederum die hohe Gefahr einer schwerwiegenden Retraumatisierung mit einer erheblichen Verschlimmerung der posttraumatischen Symptome gegenüber dem jetzigen ohnehin schon sehr angegriffenen Gesundheitszustand des Klägers ab.