VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 29.06.2006 - A 11 K 10841/04 - asyl.net: M8706
https://www.asyl.net/rsdb/M8706
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuelle Frau aus dem Iran wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

 

Schlagwörter: Iran, Homosexuelle, Flüchtlingsbegriff, soziale Gruppe, Anerkennungsrichtlinie, Hadd-Strafen, Auspeitschung, menschenrechtswidrige Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung, unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1 Bst. a; EMRK Art. 15; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. c
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuelle Frau aus dem Iran wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die festzustellenden Voraussetzungen drohender Gefahr für Leben oder Freiheit wegen Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung liegen zum maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor (§ 60 Abs. 1 AufenthG, vgl. §§ 13 Abs. 2, 31 Abs. 2, 77 Abs. 1 AsylVfG). Das Gericht hat sich davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass der Klägerin nach den gesamten Umständen die Rückkehr in den Heimatstaat nicht zugemutet werden kann, weil die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen, namentlich wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe beachtlich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.11.1991, BVerwGE 89, 162).

Der nunmehr an die Stelle des § 51 Abs. 1 AuslG getretene § 60 Abs. 1 AufenthG dient ausdrücklich der Anwendung des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) - GFK - und entspricht teilweise der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (Amtsblatt der Europäischen Union L 304/12) - Qualifikationsrichtlinie -, die bis 10.10.2006 umzusetzen ist und schon jetzt bewirkt, dass sich die Gerichte bei der Auslegung des nationalen Rechts von ihr leiten lassen können (vgl. VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - m.w.N.). Nach der Qualifikationsrichtlinie setzt die Flüchtlingseigenschaft (Art. 13) voraus, dass eine von Akteuren im Sinne des Art. 6 (wie § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG) ausgehende, nicht durch Akteure im Sinne des Art. 7 oder durch internen Schutz nach Art. 8 (vgl. § 60 Abs. 1 S. 4 a.E. AufenthG) abzuwendende gravierende Verfolgungshandlung (Art. 9) an die Merkmale nach Art. 10 (Art. 1 A Nr. 2, Art. 33 Nr. 1 GFK, § 60 Abs. 1 S. 1 und 3 AufenthG) anknüpft und kein Erlöschens- oder Ausschlussgrund nach Art. 11 und 12 vorliegt. Als Verfolgungshandlung kommt hiernach unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung in Betracht (Art. 9 Abs. 2 c), und als soziale Gruppe eine solche, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet (Art. 10 Abs. 1 d).

Die Klägerin hat durch ihre maskuline Erscheinung und die lebendige Schilderung ihrer Identität mit den daraus folgenden Problemen und Gefahren im Iran glaubhaft gemacht, dass sie zu einer Gruppe gehört, deren Mitglieder Merkmale teilen, die so bedeutsam für die Identität sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten, und dass die Gruppe im Iran eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (Art. 10 Abs. 1 d S. 1 Qualifikationsrichtlinie). Ihre homosexuelle Ausrichtung beschränkt sich nicht etwa auf Handlungen, die nach nationalem Recht von Mitgliedstaaten der Europäischen Union als strafbar gelten (Art. 10 Abs. 1 d S. 3 Qualifikationsrichtlinie), sondern ist schicksalhafter Bestandteil ihrer Gesamtpersönlichkeit, die zudem durch das starke Bedürfnis geprägt ist, sich wie ein Mann zu kleiden und aufzutreten, insbesondere keinen Tschador zu tragen, wenngleich sie kein Bedürfnis nach einer Geschlechtsumwandlung habe.

Nach der in das Verfahren eingeführten Stellungnahme des Deutschen Orient-Instituts v. 4.10.2000 ist die Wahrscheinlichkeit der Verfolgung einer homosexuellen Beziehung unter Frauen im Iran bei Bekanntwerden sehr hoch, weil derartiges ein absoluter Tabubruch ist, schlimmer noch als unter Männern, und für jeden ein "gefundenes Fressen", der eine solche Frau richtig fertig machen will. Dieser Stellungnahme zufolge dürfte das Ausbleiben einer Anzeige bei der Beziehung der Klägerin zu einer verheirateten Frau, deren achtjährige Tochter ihrem Vater von einem Vorfall erzählt habe, mit der Peinlichkeit der Affäre für den Ehemann zu erklären sein. Auch wenn wegen der sehr strengen Beweisregeln die Hadd-Strafen selten verhängt werden, sei mit einer äußerst brutalen Züchtigung durch bis zu 74 Peitschenhiebe zu rechnen, was eine wenigstens mehrwöchige Bettlägerigkeit zur Folge habe. Bei der Klägerin ist eine solche Verfolgung umso wahrscheinlicher, weil sie äußerlich zwischen den Geschlechtern sich bewegend auffällt und weder als unverheirateter "Mann" noch als maskuline Frau mit einer anderen Frau zusammen geduldet wird. Damit ist sie sogar stärker gefährdet als ein homosexueller Mann, der seiner Neigung auch im Iran nachgehen wird und nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts durch das Asylgrundrecht geschützt ist (Urt. v. 15.3.1988 und 17.10.1989, BVerwGE 79, 143 und InfAuslR 1990, 104). Die unmenschliche oder erniedrigende Strafe (Art. 9 Abs. 1 a Qualifikationsrichtlinie, Art. 15 Abs. 2 und Art. 3 EMRK) und unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Art. 9 Abs. 2 c Qualifikationsrichtlinie) soll den homosexuell Veranlagten auch in einer asylrechtlich erheblichen Eigenschaft treffen und nicht nur eine Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit ahnden, wie schon die schlechterdings unangemessenen, unabänderlichen religiösen Hadd-Strafen zeigen (vgl. BVerwG a.a.O. zur männlichen Homosexualität). Die Bestrafung mit bis zu 74 Peitschenhieben droht auch bei Verstößen gegen die - nur Frauen betreffende - Kleiderordnung (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amts), wobei die Klägerin deshalb gefährdet ist, weil etwa das Weglassen eines Kopftuchs zu ihrer geschlechtlichen Identität gehört.