OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 01.09.2006 - 8 LA 101/06 - asyl.net: M8718
https://www.asyl.net/rsdb/M8718
Leitsatz:

§ 25 Abs. 3 AufenthG i. V. m. § 60 Abs. 5 AufenthG erfassen nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse der Europäischen Menschenrechtskonvention; kein rechtliches Ausreisehindernis i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG wegen Schutzes des Privatlebens nach Art. 8 EMRK wegen langjährigen Aufenthalts mit Duldung, wenn dem Ausländer seit Jahren die freiwillige Ausreise möglich ist.

 

Schlagwörter: D (A), Berufungszulassungsantrag, ernstliche Zweifel, Aufenthaltserlaubnis, subsidiärer Schutz, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Abschiebungshindernis, Ausreisehindernis, Integration, Aufenthaltsdauer, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Ablehnungsbescheid, abgelehnte Asylbewerber, Bindungswirkung, Ausländerbehörde, Duldung, freiwillige Ausreise, Krankheit, Menschenwürde
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 8; AsylVfG § 42 S. 1; AufenthG § 25 Abs. 5; GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

§ 25 Abs. 3 AufenthG i. V. m. § 60 Abs. 5 AufenthG erfassen nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse der Europäischen Menschenrechtskonvention; kein rechtliches Ausreisehindernis i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG wegen Schutzes des Privatlebens nach Art. 8 EMRK wegen langjährigen Aufenthalts mit Duldung, wenn dem Ausländer seit Jahren die freiwillige Ausreise möglich ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Es bestehen aus den von den Klägern dargelegten Gründen keine ernstlichen Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Nach diesem Urteil steht den Klägern kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 AufenthG zu.

Ein solcher Anspruch ergibt sich zunächst nicht aus § 25 Abs. 3 AufenthG i. V. m. § 60 Abs. 5 AufenthG und Art. 8 EMRK. Der in § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in Bezug genommene § 60 Abs. 5 AufenthG verweist auf die EMRK nur insoweit, als sich aus ihr zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote ergeben. Eine von den Klägern aus inlandsbezogenen Gründen geltend gemachte, sich ihrer Ansicht nach aus Art. 8 EMRK ergebende rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise kann daher nur zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, nicht aber zur Erteilung einer solchen nach § 25 Abs. 3 AufenthG führen (vgl. neben dem von den Klägern selbst zitierten Beschluss des OVG Koblenz v. 24.2.2006 - 7 B 10020/06 -, InfAuslR 2006, 274 ff., den Beschluss des VGH Kassel v. 15.2.2006 - 7 TG 106/06 -, InfAuslR 2006, 217 ff.).

Wie der Senat bereits in seinem auf die Prozesskostenhilfebeschwerde der Kläger ergangenen Beschluss vom 30. März 2006 (8 PA 18/06) entschieden hat, ergibt sich vorliegend die von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG geforderte rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise auch nicht aus dem gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Recht auf Achtung des Privatlebens. Der Senat hält an seiner in dem bezeichneten Beschluss niedergelegten Auffassung fest, dass ein - bei den Klägern gegebener - nicht erlaubter Aufenthalt im Bundesgebiet und die damit verbundene Unsicherheit des Aufenthaltsstatus in der Regel der Annahme entgegenstehen, den Betroffenen sei wegen des Schutzes ihres Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Verlassen des Bundesgebiets unmöglich, und dass vorliegend auch im Hinblick auf die Kläger zu 3) und 4) keine atypischen Verhältnisse gegeben sind. Dabei ist ergänzend zu berücksichtigen (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 10.5.2006 - 11 S 2354/05 -, m.w.N.), dass die Kläger zu 1) und 2) in weit geringerem Maße mit dem Leben in der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind als ihre Kinder, die Kläger zu 3) und 4). Die Kläger zu 1) und 2) sind in Serbien-Montenegro geboren, aufgewachsen und haben ihr Heimatland erst im Erwachsenenalter verlassen. Was die Kläger zu 3) und 4) anbelangt, so befinden sich diese in einem Alter, in dem ihnen, trotz der sicher zu erwartenden Probleme angesichts der Gesamtumstände eine Integration in die Lebensverhältnisse von Serbien noch zugemutet werden kann. Sie werden dorthin nicht allein übersiedeln, sondern können dies mit Unterstützung ihrer Eltern und ggf. auch anderer Verwandten tun, die mit den dortigen Lebensverhältnissen vertraut sind. Soweit die Kläger sich darauf berufen, im Kosovo dauerhaft mittellos zu sein, ist dies schon nicht hinreichend dargelegt worden, im Übrigen aber auch unerheblich. Die Kläger berufen sich insoweit sinngemäß auf das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses gemäß § 60 AufenthG. Dass ein entsprechendes Hindernis nicht gegeben ist, hat das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit bestandskräftigen Bescheiden festgestellt. Diese Feststellung ist gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG auch für das vorliegende Verfahren bindend.

Im Übrigen kann ihnen auch sachlich nicht in der Annahme gefolgt werden, allein durch ihren langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet und eine damit einhergehende "Verwurzelung" bzw. "faktische Integration" stehe ihnen, jedenfalls aber den Klägern zu 3) und 4), gemäß Art. 8 EMRK ein Anspruch auf einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet zu. Wie bereits von den Verwaltungsgerichtshöfen Kassel (vgl. den vorgenannten Beschl. v. 15.2.2006) und Mannheim (Beschl. v. 10.5.2006, a.a.O.) zutreffend dargelegt worden ist, lässt sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (= Gerichtshof) ein solches Verständnis des Art. 8 EMRK nicht entnehmen (ebenso Nds. OVG, Beschl. v. 11.4.2006 - 10 ME 58/06 -, m. w. N.). So hat der Gerichtshof etwa in seiner Entscheidung vom 7. Oktober 2004 (- 33743/03 - (Dragan u.a./ Deutschland), NVwZ 2005, 1043 ff.) einen Eingriff in das ebenfalls durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Familienleben durch Rückführung einer aus Rumänien stammenden Familie, die in Deutschland nie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen ist, abgelehnt, ohne näher zu prüfen, ob ein eventueller Eingriff in das Familienleben nach Maßgabe des Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt gewesen wäre. Mit Urteil vom 30. Januar 2006 (- 50435/99 -, Rodrigues da Silva und Hoogkammer/Niederlande, Newsletter Menschenrechte (NL) 2006, S. 26) hat der Gerichtshof "daran erinnert, dass Personen, die, ohne den geltenden Gesetzen zu entsprechen, die Behörden eines Vertragsstaates mit ihrer Anwesenheit in diesem Staat konfrontieren, im Allgemeinen nicht erwarten können, dass ihnen ein Aufenthaltsrecht zugesprochen wird." Die für die gegenteilige Ansicht angeführte Entscheidung vom 16. Juni 2005 (60654/00 -, Sisojeva/Lettland, InfAuslR 2005, 349 ff.) betraf hingegen einen Sonderfall, in dem die Betroffenen zuvor jahrelang rechtmäßig in dem Mitgliedsstaat gelebt hatten. Der sinngemäß von den Klägern vertretenen Ansicht, auch ein lediglich geduldeter Aufenthalt im Bundesgebiet sei vom Schutzbereich des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst und die Duldung stelle allenfalls einen unter mehreren im Rahmen der Schrankenprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, der zudem eher nachrangig (vgl. Marx, ZAR 2006, 261, 266 f.; ohne nähere Begründung auch OVG Münster, Beschl. v. 1.8.2006 - 18 B 1539/06 -), kann daher jedenfalls in den Fällen nicht gefolgt werden, in denen es dem Ausländer seit Jahren möglich ist, freiwillig in das Land seiner Staatsangehörigkeit zurückzureisen.

Ebenso wenig ergibt sich eine solche Unmöglichkeit hinsichtlich der Klägerin zu 2) aus dem von ihr geltend gemachten Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Reiseunfähigkeit muss sich dann allerdings nicht nur auf die Abschiebung, d. h. die zwangsweise Rückführung des Betroffenen, sondern auch auf seine freiwillige Ausreise in den Heimat- oder in einen sonstigen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Drittstaat beziehen. Eine krankheitsbedingte Unfähigkeit der Klägerin zu 2), freiwillig in ihr Heimatland auszureisen, wird aber von ihr im Zulassungsantrag nicht dargelegt und ist auch nicht anderweitig ersichtlich.

Schließlich ergibt sich eine rechtliche Ausreiseunmöglichkeit im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG insbesondere für die Kläger zu 3) und 4) auch nicht aus der von ihnen in Anspruch genommenen Garantie der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Insoweit gilt das zu Art. 8 Abs. 1 EMRK Gesagte entsprechend, d. h. Voraussetzung für das von den Klägern geltend gemachte Recht, ihr Leben im Bundesgebiet führen zu dürfen, ist grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des Aufenthaltsgesetzes. Hieran mangelt es jedoch im vorliegenden Fall.