OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11.08.2006 - 10 A 10783/05 - asyl.net: M8770
https://www.asyl.net/rsdb/M8770
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Schiiten, Gruppenverfolgung, Perser, nichtstaatliche Verfolgung, Sicherheitslage, Terrorismus, Nadjaf
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

Die Berufungen der Kläger sind zulässig, aber unbegründet.

Ermächtigungsgrundlage für den Widerruf ist § 73 AsylVfG in der seit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 ab dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung.

Auf der Grundlage dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung liegen hier die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (§ 60 Abs. 1 AufenthG) vor. Es haben sich nämlich seit dem Erlass des Bescheides vom 22. Oktober 2001 die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich verändert. Auch eine solche Änderung der Verhältnisse hat das Bundesverwaltungsgericht für das Herkunftsland Irak nach dem Sturz des seinerzeitigen Diktators Saddam Hussein bereits festgestellt (Urteil vom 25. August 2004, AuAS 2005, 5 [7]). Fast zwei Jahre nach dieser in einem Revisionsverfahren getroffenen Feststellung erweist sie sich auch zur Beurteilung der gegenwärtigen Situation als zutreffend. Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) geht der Senat in Fortschreibung seiner Urteile vom 19. Mai 2006 (10 A 10795/05.OVG u.a.) und vom 11. August 2006 (10 A 11042/05.OVG u.a.) im Sommer 2006 von folgender allgemeinen Lage im Irak aus: ...

So Besorgnis erregend diese Einschätzungen auch sind, so zeigt die Analyse der gegenwärtigenSituation und die Vorschau auf die nähere Zukunft doch zweierlei: Zum einen, dass das bisherigeRegime Saddam Husseins vollständig beseitigt ist.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Zweifel, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse i.S.d.Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005, DVBl. 2006, 511) nachträglich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Klägers inden Irak eine Wiederholung der für seine Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist.

Angesichts der aufgezeigten innenpolitischen Situation droht den Klägern bei einer hier allein wegendes Asylrechts und seines Widerrufs in Betracht zu ziehende Rückkehr in den Irak auch keine politische Verfolgung aus anderen Gründen, d.h. aus solchen, die keinerlei Verknüpfung mehr mit den früheren aufweisen, die zur Anerkennung geführt haben.

Aber auch von nichtstaatlichen Akteuren droht den Klägern als Schiiten keine politische Verfolgung. Dabei verkennt der Senat allerdings nicht, dass die Schiiten als Gruppe in einer Vielzahl von Fällenschweren Repressalien ausgesetzt sind. Dies hat historische und religiöse Gründe, die bis in die Gegenwart hineinreichen und in der augenblicklichen Phase sogar noch gravierender werden.

Die Schiiten sind immer wieder in Anschläge und Entführungen involviert. Diese gehen - soweit sie nicht ohnehin einen rein kriminellen Hintergrund haben - vornehmlich von sunnitischen Arabern aus. Sie provozieren Vergeltungsschläge der Schiiten, vor allem von deren Milizen (vgl. dazu jetzt auch die Äußerung des amerikanischen Botschafters im Irak, Zalmay Khalilzad: "Es gibt einen Teufelskreis: Die Terroristen wollen Bürgerkrieg. Die Qaida greift die Schiiten an. Die schiitischen Milizen rächen sich an den Sunniten. Und die Sunniten werden extremistischer, manche schließen sich der Qaida an", zit. nach: Der Spiegel vom 3. Juni 2006).

An diesen Auseinandersetzungen und Gewaltakten sind die Schiiten auch als Angreifer und Täter beteiligt.

Nimmt man all dies in den Blick, so ist für den Senat eine politische Verfolgung der Schiiten "wegen" ihres Glaubens nicht erkennbar. Die sehr große Zahl ihrer Opfer erklärt sich vornehmlich daraus, dass sie die eindeutige Bevölkerungsmehrheit darstellen. Bei "wahllosen und willkürlichen" Attentaten auf belebten Plätzen, Märkten u.a. droht ihnen schon rein statistisch gesehen die größte Gefahr aller Bevölkerungsgruppen - ohne dass dies allerdings eine politische Verfolgung darstellt. Da die Schiiten selbst bewaffnete Milizen unterhalten, die im Widerstand gegen die Interventionsstreitkräfte, in Auseinandersetzungen mit sunnitischen Militanten und Terroristen stehen und sich teilweise auch selbst bekämpfen, vermag der Senat auch in diesen Gewaltakten, sofern Schiiten Opfer sind, keine politische Verfolgung zu erkennen. Anders ist es hingegen bei Anschlägen auf schiitische Moscheen und Gläubige, insbesondere auf Wallfahrten und an religiösen Festen und vor Moscheen. Wenn diese auch immer wieder vorkommen und dann viele schiitische Opfer zu beklagen sind - wie im August 2003 bei einem Anschlag mit mehr als 100 schiitischen Toten, am 2. März 2004 beim Ashura-Fest mit fast 200 getöteten schiitischen Pilgern, am 31. August 2005 bei einer Massenpanik auf der Tigrisbrücke in Bagdad mit etwa 1.000 getöteten Pilgern und dem Anschlag am 22. Februar 2006 auf die "Goldene Moschee" in Samarra - so stellen diese doch auch in ihrer Gesamtheit und in ihrer Wirkung auf die schiitische Bevölkerung insgesamt keine politische Verfolgung dar, von der sich gleichsam jeder Schiit betroffen fühlen müsste.

Keine der Klägerin günstigere Betrachtungsweise ergibt sich aus dem Umstand, dass sie persischer Herkunft ist. Das gilt gerade auch im Hinblick auf eine Rückkehr nach Nadjaf. Denn wie zuvor ausgeführt, war schon früher Nadjaf eines der Zentren persischer schiitischer Religionsgelehrter und ihrer Anhänger. Noch bis vor einigen Jahren war etwa die Hälfte der Bevölkerung von Nadjaf iranischen Ursprungs. Viele flüchteten allerdings vor der Unterdrückung durch Saddam Hussein in den Iran bzw. wurden dorthin verschleppt, jedoch kehren sie inzwischen wieder nach Nadjaf zurück (vgl. FAZ vom 23. April 2003). Auch studieren viele schiitische Iraner in Nadjaf. Dort unterrichtet u.a. der Groß-Ayatollah al-Sistani, der selbst iranischer Herkunft (vgl. FAZ vom 2. August 2003). Von daher hält es der erkennende Senat für praktisch ausgeschlossen, dass die Klägerin wegen ihrer persischen Herkunft politische Verfolgung zu befürchten hat.