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VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 23.05.2006 - AN 19 K 05.31526 - asyl.net: M8777
https://www.asyl.net/rsdb/M8777
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage bei HIV-Infektion trotz Mitgabe von Medikamenten, wenn die notwendige ärztliche Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht möglich ist; antiretrovirale Medikamente im Sudan nicht erhältlich; ärztliche Behandlung nicht möglich, so dass Mitgabe von antiretroviralen Medikamenten die Gefahr nicht entfallen lässt.

 

Schlagwörter: Sudan, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, HIV/Aids, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, Mitgabe von Medikamenten, extreme Gefahrenlage
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage bei HIV-Infektion trotz Mitgabe von Medikamenten, wenn die notwendige ärztliche Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht möglich ist; antiretrovirale Medikamente im Sudan nicht erhältlich; ärztliche Behandlung nicht möglich, so dass Mitgabe von antiretroviralen Medikamenten die Gefahr nicht entfallen lässt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat jedoch insoweit Erfolg, als der Kläger die Aufhebung des angegriffenen Bescheids in Nr. 3 begehrt und insoweit eine Verpflichtung zur Feststellung des Verbots einer Abschiebung in den Sudan wegen Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

In nicht ernsthaft zu bezweifelnder Weise ist im Fall des Klägers davon auszugehen, dass bei ihm eine HIV-Infektion des Grades B II (nach CDC) vorliegt, womit hier eine vor knapp einem halben Jahr begonnene antiretrovirale Therapie einhergeht. Damit konnte im Fall des Klägers eine verringerte Virusbelastung erreicht werden und der behandelnde Arzt prognostiziert für den Fall eines Abbruchs der Behandlung eine binnen Wochen rasch steigende Virusbelastung mit der Folge baldiger opportunistischer Infektionen und konkreter Gefahr baldigen Versterbens. So die gegenwärtig erfolgende Behandlung ausbleibt, ist die dem Kläger drohende Gefahr für sein Leben, zumindest aber für seinen Leib - seine Gesundheit - sowohl erheblich als auch konkret.

Das Gericht ist weiter der Auffassung, dass die im Fall des Klägers erforderliche weitere Behandlung für diesen wegen der Verhältnisse im Sudan - also zielstaatsbezogen - dort nicht verfügbar ist. Dies ergibt sich zunächst schon aus der allgemeinen Lage der medizinischen Versorgung im Sudan, also ungeachtet der Frage nach den Kosten entsprechender Behandlung.

Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes für den Sudan vom 30. Oktober 2005 ist in vom Gericht nicht bezweifelter Weise zu entnehmen, dass die medizinische Versorgung "allenfalls auf sehr minimalem Niveau gewährleistet" ist. Die medizinische Versorgung wird zudem als "für die gesamte Bevölkerung schwierig" bezeichnet, wobei kostenlos lediglich Notfallbehandlungen sind und in Dörfern häufig ein Basisgesundheitsdienst besteht und in den Städten Krankenhäuser existieren, damit also stationäre Behandlungen generell möglich sind. Gängige Arzneimittel sind erhältlich und andere können im Einzelfall importiert werden, dies jedoch auf Kosten des Patienten. Festgestellt wird des Weiteren, dass die meisten Arzneimittel für Normalbürger unerschwinglich teuer sind.

Es ist als allgemeinkundig anzusehen und entspricht damit auch der Kenntnis des Gerichts, dass die Behandlung von HIV-Infektionen eine sachgerechte ärztliche Therapie erfordert und dies unter Verschreibung teuerer Medikamente. Für den Sudan ist auf Grund vorstehend geschilderter Verhältnisse davon auszugehen, dass eine sachgerechte ärztliche Behandlung nicht verfügbar ist und zudem die in diesem Rahmen erforderlichen Medikamente allenfalls teuer privat importiert werden müssten. Es würde auch insoweit nicht weiterhelfen, wenn das Bundesamt eine Zusage einer Ausländerbehörde dahingehend beibrächte, dass dem Kläger für einen Zeitraum von 24 Monaten die erforderlichen Medikamente mitgegeben würden bzw. die Finanzierung sichergestellt würde, wie es in der mündlichen Verhandlung erörtert bzw. vom Bundesamt angeboten worden ist. Eine sachgerechte Behandlung einer HIV-Infektion ist offensichtlich nicht dadurch möglich, dass man einem betroffenen Ausländer einen Tablettenvorrat mitgibt, den er dann - nach einmal vorgegebenem Medikamentenplan - aufbraucht. Entsprechendes gilt für den Fall, dass man einen Ausländer finanziell so ausstatten würde, dass er sich die (voraussichtlich) benötigten Medikamente kaufen könnte. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht durch die Erwiderung des Bundesamtes im Klageverfahren dahingehend, dass es für HIV-Infizierte Hilfsprogramme gebe. Die entsprechenden Aussagen des Bundesamtes drängen geradezu die Annahme auf, dass eine auch nur halbwegs angemessene medizinische Versorgung von HIV-Infizierten im Sudan eben nicht stattfindet. Am Rande sei insoweit bemerkt, dass die diesbezüglichen Ausführungen des Bundesamtes zum größten Teil identisch sind mit der Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage des FDP-Abgeordneten Dr. med. Addicks zum Engagement der Bundesrepublik Deutschland im Sudan in Bezug auf Projekte zur AIDS-Prävention (14.12.2005). In der Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage ist im Übrigen auch - worauf später noch einzugehen sein wird - ausgeführt, dass zur Anzahl der HIV-Infektionen im Sudan gesicherte Informationen nicht vorliegen und die Infektionsrate unter Erwachsenen von der Weltgesundheitsorganisation für das Jahr 2003 auf "0,7 bis 7,2 Prozent" geschätzt wird.

Wie vorstehend bereits ausgeführt, wäre die Mitgabe eines Medikamentenvorrats für längere Zeit schon deswegen unbehelflich, weil damit nicht die Frage sachgerechter ärztlicher Therapie gelöst bzw. deren Mangel nicht geheilt wird. Außerdem müsste für die Relevanz entsprechender Mitnahme mit hinreichender Sicherheit erwartet werden können, dass die Medikamente auch danach bzw. nach Aufbrauchen des Vorrats zur Verfügung stehen. Eine solche Prognose lässt sich vorliegend nicht treffen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass damit eine voraussichtliche Wartezeit auf eine im Sudan tatsächlich bereits vorhandene Behandlungsmöglichkeit überbrückt werden könnte. Im Entscheidungszeitpunkt ist völlig ungewiss, ob nach Verbrauch etwa mitgegebener Medikamente bislang im Zielstaat noch nicht vorhandene Behandlungsmöglichkeiten dann erstmalig gegeben wären. Es bedarf hinsichtlich der Prüfung des Vorliegens einer konkreten Gefahr einer sorgfältigen Prüfung der gesamten Lebensumstände des Ausländers sowie des Standards der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten bezüglich einzelner Erkrankungen im betreffenden Zielstaat. Eine Besserung der Verhältnisse ist vorliegend auch nicht abzusehen, so dass nach aktuellem Erkenntnisstand der Kläger nach Aufbrauchen eines etwa mitgegebenen Medikamentenvorrats aller Wahrscheinlichkeit nach in drohende Lebensgefahren "entlassen" würde (vgl. zu dieser Problematik HessVGH, Beschluss vom 23.2.2006 - 7 UZ 269/06.A).

Selbst wenn - wie nicht - eine Behandlungsmöglichkeit der HIV-Infektion sowohl von der ärztlichen Betreuung her als auch von den erforderlichen Medikamenten her generell möglich wäre, so würde der Kläger doch auch im Sudan (selber) nicht über die finanziellen Mittel verfügen, die für eine Fortführung der antiretroviralen Therapie erforderlich sind. Sind schon im Sudan normale Arzneimittel für den Normalbürger unerschwinglich teuer, so gilt dies erst recht für die Medikamente zur Durchführung antiretroviraler Therapien im Fall von HIV-Infektionen.

Dem Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG steht auch nicht etwa der Umstand entgegen, dass es sich bei der Gefahr, welcher der Kläger ausgesetzt ist, womöglich nicht um eine individuelle Gefahr handelt, sondern um eine allgemeine Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Die Bevollmächtigten des Klägers haben hierzu auf Zahlen von UNAIDS und der Weltgesundheitsorganisation hingewiesen, welche mit der Auskunft der Bundesregierung auf die schriftliche Anfrage des FDP-Abgeordneten Dr. Addicks übereinstimmen. Demnach ist bei Erwachsenen im Sudan (für das Ende des Jahres 2003) von einer Infektionsrate im Bereich von 0,7 Prozent bis zu 7,2 Prozent auszugehen und von AIDS-bedingten Todesfällen während des genannten Jahres von etwa 23.000 bei einem Schätzungsbereich von 8.700 bis 61.000. Des weiteren ist - am Rande noch zu den Behandlungsmöglichkeiten bemerkt - davon auszugehen, dass im Juni 2004 gerade 400 Erwachsene mit einer fortgeschrittenen HIV-Infektion eine antiretrovirale Therapie erhalten haben, unter welchen näheren Umständen auch immer. Dem stehen etwa 43.000 behandlungsbedürftige Erwachsene entgegen. Die genannten Zahlen legen - zu Ungunsten des Klägers - die Existenz einer Bevölkerungsgruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nahe, welcher der Kläger angehört und womit dem Grundsatz nach die Gewährung von individuellem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgeschlossen ist. Es mag insofern allerdings erheblich streitig sein, ob hier die Einordnung betroffener Sudanesen als Bevölkerungsgruppe im vorgenannten Sinn hinsichtlich aller HIV-Infizierten unabhängig vom jeweiligen Krankheitsstadium zu erfolgen hätte oder nur die Gruppe der HIV-Infizierten im Erkrankungsstadium des Klägers. Dieser Frage braucht vorliegend allerdings nicht weiter nachgegangen zu werden, wenngleich das Gericht hier zu der Auffassung neigt, dass bei der Bestimmung der Gefahr als allgemeine Gefahr auf alle HIV-Infizierten im Sudan abzustellen ist (vgl. dazu und insgesamt OVG Sachsen, Urteil vom 6.6.2005 - 5 B 281/04.A; diesbezüglich unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 27.4.1998 - 9 C 13/97). Ist aber - wie zu Ungunsten des Klägers hier einmal angenommen werden soll - die Anwendung von Satz 1 des § 60 Abs. 7 AufenthG wegen des Satzes 2 dieser Vorschrift (zunächst) gesperrt, bedeutet dies jedoch im Fall des Klägers nicht, dass ihm der begehrte Abschiebungsschutz nicht gewährt werden dürfte. Im Fall seiner Abschiebung in den Sudan nämlich würde der Kläger im vorgenannten Sinn einer extremen Gefahr ausgesetzt sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sich nämlich wegen nicht möglicher Weiterbehandlung seiner Erkrankung diese verschlimmern und es würde in der Folge zu seinem Tod kommen. Damit wäre der Kläger im Fall seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert, mindestens aber schwersten Gesundheitsverletzungen. Dies würde entsprechend vorstehenden Ausführungen und dem vorgelegten Attest innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit der Fall sein. Der insofern noch vergehende Zeitraum steht dem Anspruch nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen. Entscheidend ist hier, dass sich der Gesundheitszustand schon innerhalb weniger Monate nach etwaiger Abschiebung so verschlechtern wird, dass der Kläger zwangsläufig an einer HIV-assoziierten bzw. opportunistischen Infektion erkranken würde, was später seinen sicheren Tod zur Folge haben würde. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger in ein Land und eine soziale Situation zurückkehren würde, in der es ihm nur schwer möglich sein würde, sich vor HIV-assoziierten Erkrankungen zu schützen. Die Bevollmächtigten des Klägers haben insoweit zutreffend auf die Probleme einer infektionsträchtigen Umgebung hingewiesen (vgl. auch insoweit bzw. zum Kausalverlauf im Fall der Abschiebung eines HIV-Infizierten das Urteil des OVG Sachsen vom 6.6.2005 a.a.O.).