VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 21.08.2006 - M 26 K 05.50731 - asyl.net: M8780
https://www.asyl.net/rsdb/M8780
Leitsatz:

Gefährdung wegen HIV-Infektion ist in Äthiopien eine allgemeine Gefahr; nicht jedes antiretrovirale Medikament ist erhältlich; extreme Gefahr wegen Abbruch der wirksamen antiretroviralen Therapie.

 

Schlagwörter: Äthiopien, HIV/Aids, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, medizinische Versorgung, Mitgabe von Medikamenten, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

Gefährdung wegen HIV-Infektion ist in Äthiopien eine allgemeine Gefahr; nicht jedes antiretrovirale Medikament ist erhältlich; extreme Gefahr wegen Abbruch der wirksamen antiretroviralen Therapie.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Die Voraussetzungen des Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vormals: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) sind nach wie vor gegeben, so dass der die Feststellung vom 18. Juni 1996 widerrufende Bescheid vom 28. April 2005 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§§ 73 Abs. 3 AsylVfG, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die drohende Verschlimmerung einer HIV-Erkrankung wegen unzureichender oder nicht erschwinglicher Behandlungsmöglichkeiten in Äthiopien stellt eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) dar. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, dass bei weit verbreiteten Krankheiten wie AIDS eine allgemeine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) vorliegen kann (Urteil vom 27. April 1998 - 9 C 13/97 - InfAuslR 1998, 409 ff.). Maßgeblich ist, ob in dem jeweiligen Abschiebezielstaat "viele Menschen hiervon betroffen" sind (a.a.O., S. 410 f.).

In Äthiopien ist AIDS so weit verbreitet, dass eine allgemeine Gefahr in diesem Sinne besteht. Nach der Auskunft der Deutschen Botschaft in Addis Abeba an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 19. November 1998 ging das äthiopische Gesundheitsministerium davon aus, dass sich die Anzahl der HIV-Infizierten, die noch keinerlei Krankheitssymptome aufwiesen, im Jahr 1997 auf 2,5 bis 3 Millionen Menschen belaufen habe.

Das Gutachten von Dr. Jäger vom 14. April 2000 führt u.a. aus, dass der Osten und der Süden Afrikas auf besonders dramatische Weise von der AIDS-Epidemie betroffen sei. In Äthiopien verbreite sich der Virus so schnell wie in kaum einem anderen Land. Den offiziellen Zahlen der äthiopischen Regierung zufolge seien mindestens 3 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert. Äthiopien stelle heute etwa 9 % aller weltweiten HIV-Infektionen. In Städten wie Addis Abeba trage jeder fünfte die tödliche Krankheit in sich, in ländlichen Regionen werde der prozentuale Anteil HIV-Infizierter etwas geringer eingeschätzt. Inzwischen habe sich AIDS in Äthiopien zur führenden Todesursache der 15- bis 49-Jährigen entwickelt.

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Juli 2006 geht davon aus, dass HIV/AIDS weit verbreitet ist (S. 7). Nach Auffassung des Gerichts haben die HIV-Erkrankungen in Äthiopien damit einen Verbreitungsgrad erreicht, bei dem ohne Bestehen einer politischen Leitentscheidung nach § 60a AufenthG (vormals: § 54 AuslG) Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vormals: 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) grundsätzlich nicht gewährt werden kann, sondern durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG (vormals: § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG) gesperrt ist.

Eine Regelung nach § 60 a AufenthG (vormals: 54 AuslG) für HIV-Infizierte bzw. AIDS-kranke Ausländer ist nicht vorhanden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist aber auch ohne Vorhandensein einer solchen Regelung gleichwohl Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Betroffene anderenfalls in eine "extreme" Gefahr geriete, "die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde" (BVerwG InfAuslR 1996, 149, 151). Darauf kann sich der Kläger hier mit Erfolg stützen.

Der Kläger ist HIV-positiv und deswegen mindestens seit 1995 in ärztlicher Behandlung, seit 1997 in antiretroviraler medikamentöser Behandlung. Die Medikation wurde im Laufe der Jahre wegen Unverträglichkeiten bzw. Medikamentennebenwirkungen wiederholt verändert und ist genau den gesundheitlichen Bedürfnissen des Klägers angepasst. Seit 2005 konnte unter einer Dreifachtherapie mit Epivir 300, Viread und Retrovir 250 die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesenkt werden.

In der Stellungnahme der Deutschen Botschaft vom 23. November 2004 an das VG Aachen ist zwar ausgeführt, dass in Addis Abeba ständig die Arzneimittel Lamivudine und Zidovudine in Kombination, Nevirapine, Stavudine, Nelfinavir und Afavirenz erhältlich sind, weitere antiretrovirale Arzneimittel (z.B. Didanosine, Indanavir, Lamivudine, Ritonavir, Saquinavir, Zalcitabine, Zidovudine) sind in der nationalen Liste der essentiellen Medikamente zur HIV-Therapie aufgenommen, aber vorübergehend in Äthiopien nicht erhältlich. Andere antiretrovirale Medikamente sind in die nationale Liste gar nicht aufgenommen. Auch der Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien vom 18. Juli 2006 (im folgenden: Lagebericht) führt aus, dass in Äthiopien in den staatlichen Apotheken mindestens sechs verschiedene antiretrovirale Medikamente erhältlich seien (IV.1b), was wohl den sechs Arzneimitteln entspricht, die in der vorgenannten Stellungnahme vom 23. November 2004 genannt sind. Das bedeutet, dass der Kläger bei Rückkehr nach Äthiopien die von ihm seit dem Jahr 2005 verwendete Arzneimittelkombination Epivir 300, Viread und Retrovir 250 mittelfristig (wenn der mitgebrachte Vorrat verbraucht ist) nicht mehr einnehmen könnte, sondern auf die in Äthiopien tatsächlich vorhandenen antiretroviralen Arzneimittel zurückgreifen müsste.

Eine willkürliche und medizinisch nicht begründete Veränderung der Therapie aufgrund fehlender Kombinationsmöglichkeiten in Äthiopien - weil die Arzneimittel, die der Kläger benötigt, nicht oder nicht regelmäßig erhältlich sind - würde unweigerlich schwerwiegende Folgen für den Kläger haben, z.B. eine vorzeitige lebensbedrohende Resistenzentenwicklung und damit eine schwere Schädigung des Immunsystems, das wiederum opportunistische Infektionen nach sich ziehen würde (vgl. das vorgelegte ärztliche Attest des ... vom 17. Juli 2006).

Eine konstante antiretrovirale Therapie für den Kläger ist erforderlich und lebensnotwendig. Sie wurde im Laufe der Jahre auf ihn speziell zugeschnitten und seinen Bedürfnissen angepasst. Es wäre unzumutbar und lebensgefährlich, die Medikation, die sich gut bewährt hat, die der Kläger offenbar gut verträgt und die auch gut wirkt, zu verändern. Zusätzlich benötigt der Kläger HIV-spezialisierte engmaschige ärztliche Betreuung. Ohne eine regelmäßige gewohnte antiretrovirale Therapie und Betreuung ist die Lebenserwartung des Klägers stark verkürzt (siehe vorgenanntes ärztliches Attest).

Nach Auffassung des Gerichts liegen deshalb die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG vor. Die Gefahr ist hier "extrem", auch wenn schwere Erkrankungen "erst" eine gewisse Zeit nach einer Therapieveränderung zu erwarten sind. Entscheidend ist, dass bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erstens die Lebenserwartung des Klägers in einer Weise verkürzt würde, die ihm jede Lebensperspektive nimmt, und er zweitens einem mehrjährigen, mit schwerwiegenden Begleiterkrankungen verbundenen Leidensprozess, der letztlich zum Tode führt, ausgesetzt wäre.