VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.02.2006 - 11 S 1857/05 - asyl.net: M8781
https://www.asyl.net/rsdb/M8781
Leitsatz:
Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Abschiebungskosten, Erstattungsanspruch, zeitliche Begrenzung, Auslegung, Willenserklärung, Formular, Anfechtung, Irrtum, Anfechtungsfrist, Asylantrag, Wechsel des Aufenthaltszwecks, öffentliche Urkunde, Beweis, Beweislast, Hinweispflicht
Normen: AuslG § 82 Abs. 2; AuslG § 82 Abs. 1; AuslG § 84 Abs. 2 S. 1; BGB § 119 Abs. 1; BGB § 121 Abs. 1 S. 1; BGB § 133; BGB § 157; BGB § 305c Abs. 2; ZPO § 415 Abs. 1; ZPO § 418 Abs. 1
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat auf die zulässige Anfechtungsklage der Klägerin den Leistungsbescheid des Regierungspräsidiums vom 10.05.2002 zu Recht aufgehoben. Denn der Leistungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt daher die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

I. Die Klägerin hat sich durch die Abgabe ihrer Erklärung vom 05.01.2001 gegenüber der Ausländerbehörde zur Erstattung der (freilich näher zu bestimmenden, dazu II.) Kosten der Ausreise (und - im vorliegenden Rechtsstreit unerheblich - des Lebensunterhalts) ihres Cousins verpflichtet. Die Erklärung ist weder der Form nach noch inhaltlich unwirksam.

Die Erklärung der Klägerin wäre auch dann wirksam, wenn die Klägerin, wie sie es in der Verhandlung vor dem Senat erstmals behauptet hat, bei der Unterzeichnung davon ausgegangen sein sollte, es handle sich lediglich um ein formalisiertes Einladungsschreiben an ihren Cousin. Abgesehen von Zweifeln an der Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens - immerhin musste die Klägerin nach ihren Angaben vor Unterzeichnung der Erklärung nochmals nach Hause, um ein Dokument mit finanzieller Bedeutung, eine Verdienstbescheinigung beizubringen -, wäre ein solcher Irrtum über den Erklärungsinhalt allenfalls ein Anfechtungsgrund (vgl. § 119 Abs. 1 BGB). Ob eine auf § 119 Abs. 1 BGB gestützte Anfechtung und damit eine einseitige Lösung von der Verpflichtungserklärung zulässig wäre (bejahend VG München, Urteil vom 16.01.2002 - M 23 K 01.4677 - <juris> und VG Frankfurt, Urteil vom 27.05.1997 - 6 E 3557/95 -, NVwZ-Beil. 11/1997, 88; offen gelassen in BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 - 1 C 33.97 -, BVerwGE 108, 1 = InfAuslR 1999, 182), bedarf hier keiner Entscheidung, da die Anfechtung jedenfalls nicht erklärt worden ist und im Übrigen die Anfechtungsfrist (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) längst abgelaufen wäre.

II. Der Umfang der Verpflichtung der Klägerin zur Haftung für Kosten der Ausreise (und des Lebensunterhalts) ihres Cousins ist - schon nach dem Wortlaut ihrer Erklärung vom 05.01.2001 - nicht unbegrenzt.

1. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Braunschweig (Urteil vom 17.12.2003 - 6 A 83/03 - <juris>) ergibt sich "auf Grund des klaren Wortlauts" einer in dem bundesweit üblichen Formular abgegebenen Erklärung, man verpflichte sich, für einen bestimmten Ausländer innerhalb einer bestimmten Frist (im Fall des VG Braunschweig durch einen konkreten Anfangs- und Endtermin bezeichnet) "nach § 84 des Ausländergesetzes die Kosten für den Lebensunterhalt und nach §§ 82 und 83 des Ausländergesetzes die Kosten für die Ausreise" zu tragen, dass diese Erklärung hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der Haftung für Kosten der Ausreise schon nicht auslegungsfähig sei. Aus ihr ergebe sich vielmehr eindeutig, dass die Haftung nicht nur für die Kosten des Lebensunterhalts, sondern auch für die Kosten einer Ausreise des Ausländers durch den in die Erklärung eingefügten Endtermin zeitlich begrenzt sei.

Dieser Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Der Wortlaut derartiger Erklärungen lässt - ungeachtet der Gestaltung der dafür verwendeten Textblöcke im bundeseinheitlichen Formular - auch die Deutungsvariante zu, dass sich die zeitliche Begrenzung nur auf die Kosten des Lebensunterhalts bezieht, je nach dem, welche sprachliche Funktion dem "und" zugemessen wird. Zudem lassen Sinn und Zweck der im relevanten Formularabschnitt genannten Bestimmungen - §§ 82 und 83 AuslG - es nicht eindeutig zu, die Haftung auch für die Kosten der Ausreise strikt durch den im Formular genannten Endtermin zu begrenzen. Das gilt insbesondere für Fälle wie den vorliegenden, in denen die Haftungsdauer über die Dauer üblicherweise erteilter Besuchsvisa nicht wesentlich hinausgeht. Denn die Ausreisepflicht entsteht erst mit dem Ablauf der Gültigkeit des Visums (so auch - in einem vergleichbaren Fall - Beschluss des Senats vom 19.04.2005 - 11 S 1555/04 -; ähnlich VG Hamburg, Urteil vom 28.08.2001 - 15 VG 2354/2000 - <juris> und Funke-Kaiser in: GK-AufenthG zu der § 82 Abs. 2 AuslG entsprechenden Vorschrift des § 66 Abs. 2 AufenthG, Rn. 14).

2. Die Bestimmungen des Ausländergesetzes schließen es auch nicht zwingend aus, die Haftung eines Verpflichtungsgebers für die Kosten der Ausreise eines Ausländers auf eine Ausreise zur erstrecken, die erst nach Durchführung eines (erfolglosen) Asylverfahrens - nach Ablauf des asylverfahrensbedingten Aufenthaltsrechts - erfolgt.

Zwar wechselte der durch ihre Verpflichtungserklärung begünstigte Cousin spätestens durch Stellung seines Asylantrags seinen ursprünglichen Aufenthaltszweck, die durch das Besuchervisum erlaubte "Ferienreise". Der Erhalt einer Aufenthaltsgestattung (§ 55 AsylVfG) durch die Stellung des Asylantrages kann aber noch nicht als aufenthaltsrechtliche Anerkennung des neuen Aufenthaltszwecks im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gewertet werden, da der Asylantrag - sogar als offensichtlich unbegründet - abgelehnt wurde. Zur Bestimmung der Begrenzung der Haftung bedarf es daher auch im vorliegenden Fall der vom Bundesverwaltungsgericht geforderten Auslegung nach den Umständen des Einzelfalls.

3. Eine Auslegung der Reichweite der Verpflichtung der Klägerin ergibt, dass sie die Kosten einer Ausreise ihres Cousins im Wege der Abschiebung, die nach dem Ablauf von drei Monaten und nach Durchführung eines Asylverfahrens erfolgte, nicht übernommen hat.

Zur Auslegung von Inhalt und Reichweite von Verpflichtungserklärungen sind die Regeln des bürgerlichen Rechts über die Auslegung von Willenserklärungen (§§ 133, 157 BGB) heranzuziehen (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 - 1 C 33/97 -, BVerwGE 108, 1 = InfAuslR 1999, 182; Bay. VGH, Urteil vom 30.06.2003 - 24 BV 03.122 -, BayVBl. 2003, 751; Beschluss des Senats vom 19.04.2005 - 11 S 1555/04 -; Funke-Kaiser in: GK-AuslR, § 84 Rn. 9). Nach diesen Regeln ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an einem buchstäblichen Sinne des Erklärten zu haften. Maßgebend ist allerdings nicht der innere, sondern der erklärte Wille, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei objektiver Würdigung aller maßgeblichen Begleitumstände und des Zwecks der Erklärung verstehen konnte (vgl. etwa Hess. VGH, Urteil vom 29.08.1997 - 10 UE 2030/95 -, InfAuslR 1998, 166). Auszugehen ist deswegen grundsätzlich von dem Standpunkt dessen, für den die Erklärung bestimmt ist (BVerwG, Urteil vom 26.09.1996 - 2 C 39.95 -, BVerwGE 102, 81 = VBlBW 1997, 135 m.w.N.), also dem Empfängerhorizont. Das wäre hier der Horizont der Ausländerbehörde.

Auf den Empfängerhorizont kann bei der Auslegung einer Willenserklärung aber dann nicht maßgeblich abgestellt werden, wenn eine Erklärung in einem Formular des Erklärungsempfängers abgegeben wird. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung vorformulierter Unterlassungserklärungen (vgl. etwa Urteil vom 17.07.1997 - I ZR 40/95 -, NJW 1997, 3087; vgl. auch Heinrichs in: Palandt, Komm. z. BGB, 65. Aufl., § 133 Rn. 9 m.w.N.) und zu allgemeinen Geschäftsbedingungen wird auch für das öffentliche Recht zutreffend abgeleitet, dass sich bei Verwendung eines Formulars des Erklärungsempfängers der dargelegte Auslegungshorizont ändert (vgl. etwa OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 04.03.2002 - 2 L 170/01 -, DÖD 2002, 255 = NVwZ-RR 2003, 5): Dann kommt es maßgeblich jedenfalls auch darauf an, wie der Erklärende - hier also die Klägerin - seine Aussage hat verstehen dürfen; verbleiben Unklarheiten, gehen diese zu Lasten des Formularverwenders (§ 305c Abs. 2 BGB entspr.).

Unter Anwendung dieser Kriterien auf den vorliegenden Fall ergibt sich für den Senat nicht eindeutig, dass die Klägerin auch die Kosten einer Ausreise ihres Cousins für eine Abschiebung übernehmen wollte, die nicht nur nach dem Ablauf von drei Monaten nach seiner Einreise, sondern zudem auch erst nach Durchführung eines Asylverfahrens erfolgte. Diese Unsicherheit geht zu Lasten des Beklagten, der sich insoweit die Formularverwendung und -entgegennahme durch die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Kiel zurechnen lassen muss (vgl. zur Zurechnung OVG Nieders., Urteil vom 27.08.1998, a.a.O.).

a) Das – bundeseinheitliche - Formular der Verpflichtungserklärung verdeutlicht für sich gesehen für den juristischen Laien nicht hinreichend, dass zu den Kosten der Ausreise auch die Kosten einer zwangsweisen Beendigung des Aufenthalts durch Abschiebung gehören, vor allem dann, wenn die Abschiebung erst nach Durchführung eines Asylverfahrens - genauer: nach Ende des asylbedingten Aufenthaltsrechts - zulässig wird.

b) Zwar hat die Klägerin durch ihre Unterschrift am 05.01.2001 unter das ihr vorgelegte bundeseinheitliche Formular für Verpflichtungserklärungen auch bekundet, sie sei über "Art und Umfang der Haftung" aufgeklärt worden. Unklarheiten darüber, welcher Umfang einer möglichen Haftung ihr gegenüber genannt worden ist, sind damit aber noch nicht beseitigt (so auch VG Braunschweig, a.a.O.). Bei der Verpflichtungserklärung dürfte es sich zwar aller Voraussicht nach um eine Erklärung handeln, die vor der Ausländerbehörde abgegeben worden und von dieser innerhalb ihrer Amtsbefugnisse in der vorgeschriebenen Form aufgenommen worden ist (öffentliche Urkunde im Sinne des § 415 Abs. 1 ZPO). Sie ist jedoch keine Urkunde nach § 418 Abs. 1 ZPO über Wahrnehmungen der Behörde und begründet damit nicht den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen - hier der inhaltlichen Richtigkeit der Angaben -, sondern lediglich Beweis dafür, dass die Klägerin die gesamten in der Verpflichtungserklärung enthaltenen Erklärungen abgegeben hat (vgl. BGH, Urteil vom 06.07.1979 - I ZR 135/77 -, NJW 1980, 1000; Geimer in: Zöller, Komm. z. ZPO, 25. Aufl., § 415 Rn. 5; Hartmann in: Baumbach u.a., Komm. z. ZPO, 59. Aufl., § 415 Rn. 8). Daher gelten für Feststellungen zur Aufklärung der Klägerin durch die Ausländerbehörde über den Umfang ihrer Haftung die üblichen Regeln zur Darlegungs- und Beweislast.