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BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - asyl.net: M8792
https://www.asyl.net/rsdb/M8792
Leitsatz:

1. Die Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung (hier: von Christen im Irak) durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist.

2. Droht dem (hier: wegen des subjektiven Nachfluchtgrunds der Asylantragstellung in Deutschland) anerkannten Flüchtling im Falle des Widerrufs bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat keine Verfolgungswiederholung, sondern eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung (hier: wegen der Religionszugehörigkeit durch Private), ist der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden.

 

Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Anwendungszeitpunkt, Zuwanderungsgesetz, Ermessen, Unverzüglichkeit, Jahresfrist, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungszusammenhang, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Akteure, Verfolgungsdichte, Christen, Irak, Antragstellung als Asylgrund, Kosten, Streitwert
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 1; RVG § 30
Auszüge:

1. Die Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung (hier: von Christen im Irak) durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist.

2. Droht dem (hier: wegen des subjektiven Nachfluchtgrunds der Asylantragstellung in Deutschland) anerkannten Flüchtling im Falle des Widerrufs bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat keine Verfolgungswiederholung, sondern eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung (hier: wegen der Religionszugehörigkeit durch Private), ist der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Revision ist begründet.

2. Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof haben das Klagebegehren zutreffend nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage beurteilt (stRspr, vgl. Urteil vom 8. Februar 2005 BVerwG 1 C 29.03 - InfAuslR 2005, 339).

4. Hingegen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass dem Kläger - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung Ende Mai 2005 - bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut eine (andere) Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang vereinbar. Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof im Ausgangspunkt zutreffend geprüft, ob dem Kläger nunmehr bei einer Rückkehr in den Irak eine (Gruppen-)Verfolgung als Christ durch nichtstaatliche Akteure droht. Die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs, mit denen er eine derartige Gruppenverfolgung der Christen im Irak verneint hat, genügen indes nicht den Anforderungen, die auch an die Prüfung und Ermittlung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu stellen sind.

a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Verfolgung grundsätzlich geklärt (vgl. vor allem Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung des Asylbewerbers, die Voraussetzung sowohl einer Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG als auch als (Konventions-) Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung; vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. - BVerfGE 83, 216 und BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. S. 202). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. Beschluss vom 5. Mai 2003 - BVerwG 1 B 234.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 271 und Urteil vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 171.95 - BVerwGE 101, 134 <140 f.>).

Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. S. 203). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O.; zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 5. Mai 2003 - BVerwG 1 B 234.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 271 sowie BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 a.a.O. S. 234, jeweils m.w.N.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Füchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.

b) Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch das Zuwanderungsgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist.

Danach ist, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt und untersucht hat, auch die Verfolgung der Christen im Irak durch fundamentalistische Muslime und andere private Dritte in den Blick zu nehmen und im Rahmen der stets erforderlichen Gesamtschau aller asylrelevanten Bedrohungen zu würdigen. Entgegen der Auffassung der Beklagten und der von ihr angeführten Stimmen in Rechtsprechung und Literatur erfasst § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG dabei schon seinem Wortlaut nach alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere Einschränkung, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfolgungshandlungen im Sinne des Satzes 1 ausgehen.

Die Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure - je für sich, soweit sie auf unterschiedliche Gruppen gerichtet sind, oder zusammen, soweit sie sich gegen dieselbe Personengruppe richten - müssen allerdings, um eine private Gruppenverfolgung mit der Regelvermutung individueller Betroffenheit annehmen zu können, auch das Erfordernis der Verfolgungsdichte erfüllen. Ob diese Voraussetzungen bei einer Gruppe in einem bestimmten Herkunftsstaat vorliegen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a und b AufenthG zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. S. 206; zur ausnahmsweisen Entbehrlichkeit einer weiteren Quantifizierung der Verfolgungsschläge bei sehr kleinen Gruppen vgl. zuletzt Beschluss vom 23. Dezember 2002 - BVerwG 1 B 42.02 - Buchholz 11 Art. 16a GG Nr. 49 ). Ob und ggf. inwieweit die tendenziell noch weitergehenden Nachweiserleichterungen für eine bevorstehende Verfolgungsgefahr bei Aufdeckung eines Verfolgungsprogramms ebenfalls auf eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar sind, bedarf keiner weiteren Erörterung.

c) Diesen Anforderungen wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Der Verwaltungsgerichtshof hätte seine Entscheidung nicht ohne genauere Feststellungen zu Art, Umfang und Gewicht der Verfolgungshandlungen treffen dürfen und diese zu der Zahl der irakischen Christen in Beziehung setzen müssen. Um eine Gruppenverfolgung der Christen im Irak - oder einzelner christlicher Glaubensgemeinschaften - ausschließen zu können, hätte sich der Verwaltungsgerichtshof nicht damit begnügen dürfen, lediglich pauschal festzustellen, Überfälle und Entführungen seien insbesondere bei Minderheiten an der Tagesordnung, christliche Betreiber von Alkoholgeschäften seien Ziel von Anschlägen und Plünderungen sowie gezielte Anschläge auf Kirchen in Bagdad und in Mosul hätten zugenommen (UA S. 9). Für die notwendige Relationsbetrachtung fehlen außerdem jegliche Feststellungen zur Anzahl der möglicherweise als Gruppe verfolgten Christen im Irak; sie ergeben sich auch nicht aus der in Bezug genommenen Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts. Die tatrichterliche Erwägung des Verwaltungsgerichtshofs, gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen seien die Übergriffe gegenüber Christen nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung der Christen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG begründen könnten, ist ferner auch deshalb mit Bundesrecht nicht vereinbar, weil eine Gruppenverfolgung der Christen nicht mit der Begründung verneint werden kann, dass auch andere Bevölkerungsgruppen oder Minderheiten in ähnlicher Weise drangsaliert werden.

5. Für das weitere Verfahren bemerkt der Senat:

a) Zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung, ob dem Kläger heute bei einer Rückkehr in den Irak einer Gruppenverfolgung als Christ droht, den allgemeinen (Prognose-)Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegt und nicht den erleichterten sog. herabgesetzten oder herabgestuften Maßstab der hinreichenden Sicherheit vor erneuter bzw. wiederholter Verfolgung. Wie bereits ausgeführt, hat das Bundesverwaltungsgericht bisher offen gelassen, welcher Prognosemaßstab beim Widerruf gilt, wenn für die Zukunft befürchtete Verfolgungsmaßnahmen keinerlei Verknüpfung mehr mit den früheren Maßnahmen aufweisen, die zur Anerkennung geführt haben (vgl. Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. Rn. 17). Der Senat hält in solchen Fällen - wie hier - die Anwendung des allgemeinen Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit für richtig, wenn dem Betroffenen keine Verfolgungswiederholung im engeren Sinne droht, sondern eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung, die in keinem inneren Zusammenhang mit der früheren mehr steht. Nur dann erscheint es gerechtfertigt, den subjektiv mit dem "Trauma" einer Vorverfolgung belasteten und/oder objektiv einer erhöhten Gefahr der Verfolgungswiederholung ausgesetzten anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtling gegenüber einem nicht oder nicht in gleichartiger Weise vorverfolgten Asylbewerber zu privilegieren, der bei einer Rückkehr in den Herkunftstaat derselben Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist und nach allgemeiner Ansicht asylrechtlichen Schutz nur erhalten kann, wenn die Rückkehrverfolgung beachtlich wahrscheinlich ist. Nur das entspricht auch den Grundsätzen der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Anwendbarkeit des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs bei erlittener Vorverfolgung, die voraussetzt, dass "ein innerer Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und der mit dem Asylbegehren geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt besteht, dass bei Rückkehr mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung zu rechnen ist oder das erhöhte Risiko einer gleichartigen Verfolgung besteht" (vgl. insbesondere Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 Leitsatz).

b) Nach den Feststellungen im Berufungsurteil besteht hier kein Zweifel, dass die für die Flüchtlingsanerkennung des Klägers ausschlaggebende Annahme des subjektiven Nachfluchttatbestands der Asylantragstellung in Deutschland keinerlei Verknüpfung mit der nun bei einer Rückkehr in Betracht kommenden Gefahr einer Verfolgung durch Private wegen des christlichen Glaubens aufweist. Dies gilt im Übrigen, wie in der Revisionsverhandlung erörtert, auch für den im Anerkennungsverfahren seinerzeit sonst noch vorgebrachten, vom Bundesamt als nicht asylbegründend bewerteten Verfolgungsvortrag des Klägers. Der Senat weist hierzu aber darauf hin, dass im Widerrufsverfahren grundsätzlich alle früher geltend gemachten Verfolgungsgründe, gleichgültig ob sie im Anerkennungsbescheid abgelehnt oder sonst nicht berücksichtigt worden sind - und auf die sich die Bestandskraft des Anerkennungsbescheids daher nicht erstreckt -, unter dem Gesichtspunkt eines etwaigen Zusammenhangs mit einer nunmehr drohenden Rückkehrverfolgung zu untersuchen sind, bevor die Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs in Bezug auf die Rückkehrverfolgung ausgeschlossen werden kann.

6. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Hierzu weist der Senat darauf hin, dass es sich bei der Klage gegen den Widerruf einer Flüchtlingsanerkennung um ein Verfahren handelt, das "die Asylanerkennung einschließlich der Feststellung der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG und die Feststellung von Abschiebungshindernissen" betrifft und bei dem der Gegenstandswert deshalb 3 000 beträgt, und nicht um "ein sonstiges Klageverfahren" (mit einem Gegenstandswert von nur 1 500 ), wie der Verwaltungsgerichtshof wohl angenommen hat.