VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 16.08.2006 - 1 A 406/03 - asyl.net: M8809
https://www.asyl.net/rsdb/M8809
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für vietnamesischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Betätigung und buddhistischen Glaubens; zur Verfolgung von religiösen Gruppen.

 

Schlagwörter: Vietnam, Folgeantrag, Drei-Monats-Frist, Anhörung, Änderung der Rechtslage, Änderung der Sachlage, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Dauersachverhalte, exilpolitische Betätigung, Fristbeginn, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, unerlaubtes Verbleiben im Ausland, Strafrecht, Strafverfolgung, Oppositionelle, Regimegegner, Situation bei Rückkehr, politische Entwicklung, Verfolgungsbegriff, Flüchtlingsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, Buddhisten, Verein Bewegung für eine demokratische Zukunft in Vietnam e.V., OAVD, Demonstrationen, UBCV, VBKV, Christen, Hoa-Hao-Religion, Antragstellung als Asylgrund, Auswärtiges Amt, Lageberichte, Administrativhaft, Rückführungsabkommen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 9; RL 2004/83/EG Art. 10; AsylVfG § 28 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 5; GFK Art. 33
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für vietnamesischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Betätigung und buddhistischen Glaubens; zur Verfolgung von religiösen Gruppen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet, soweit es dem Kläger um seine Anerkennung als Flüchtling iSd Art. 13 der Richtlinie 2004/83/EG (Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ) bzw. des Art. 33 GFK v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) geht, also um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG.

5. Dem Kläger droht bei einer Rückführung nach Vietnam prognostisch für den Zeitpunkt August/September 2006 eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung iSd Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK. Dabei reicht eine Bedrohung aus.

5.2 Die Bedrohung des Klägers einschließlich Verfolgungshandlungen und -gründe ergibt sich vielmehr einerseits aus den zahlreichen politischen Strafvorschriften Vietnams (vgl. dazu Thür. OVG, Urt. v. 6. 3. 2002, NVwZ 2003, Beilage Nr. I 3, 19 = EzAR 212 Nr. 13), welche im Wesentlichen dem Zweck dienten und dienen, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam abzusichern, andererseits aber und vor allem aus einer verschärften Praxis vietnamesischer Behörden bei der Handhabung dieser politischen Vorschriften zur Sicherung der "Staatsdoktrin". Vgl. dazu VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159:

"Bei Art. 87 und 88 VStGB handelt es sich um Vorschriften, die ausschließlich die Äußerung von Auffassungen unter Strafe stellt, die von der Staatsdoktrin abweichen. Das Gleiche gilt auch für Art. 79 VStGB, der unter Strafe stellt, eine Organisation zu gründen oder ihr beizutreten, die das Ziel hat, die Volksregierung zu stürzen. Art. 91 VStGB führt einen modifizierten Republikfluchttatbestand ein, wenn die Absicht besteht, im Ausland gegen die vietnamesische Regierung zu opponieren. Neuerdings ist es auch nicht ausgeschlossen, dass eine Bestrafung nach den bereits erwähnten "Vorschriften über die administrative Bewährung" erfolgen könnte. Auch dies wäre eine politische Strafvorschrift, da sie ebenfalls dem Zweck, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam zu sichern, dient."

Dabei ergibt sich eine Bedrohung unter dem Gesichtspunkt der Herrschaftssicherung auch mit Rücksicht auf die Art. 9 und Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004 (Amtsbl. der EU v. 30.9.2004 / L 304/12 ). Diese ist bereits heranzuziehen und auch schon beachtlich (s. o. 1). Die der Richtlinie 2004/83/EG widersprechenden nationalen Bestimmungen - hier vor allem § 28 Abs. 2 AsylVfG - sind im vorliegenden Fall insoweit unangewendet zu lassen, als sie Richtlinienbestimmungen widersprechen. Das ist hier der Fall.

Denn Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie legt fest, dass Verfolgungsfurcht auf solchen Aktivitäten des Antragstellers beruhen kann, die "seit" und nach Verlassen des Herkunftslandes unternommen wurden - insbesondere dann, wenn diese Aktivitäten nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Irgendwelche Einschränkungen enthält diese Bestimmung nicht. Sie ist zeitlich wie sachlich uneingeschränkt anwendbar.

Die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für Folgeanträge - unbeschadet der GFK - den Mitgliedstaaten zugestandene Regelungskompetenz, eine Anerkennung als Flüchtling in der Regel auszuscheiden, wenn die Verfolgungsgefahr auf "Umständen" beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, ist nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 3 c) allein auf persönliche Umstände (familiärer und sozialer Hintergrund) zu beschränken (Ehe, Kinder, Arbeitslosigkeit usw.). Die in Abs. 2 genannten "Aktivitäten" sind von den in Abs. 3 genannten "Umständen" sprachlich wie sachlich zu unterscheiden, wie die Differenzierung in Art. 4 Abs. 3 c und d aufzeigt: Zu den "Aktivitäten" ist eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung (iSv Art. 9, etwa Abs. 2 d der Richtlinie) stattfindet. Diese Bewertung unterliegt keinerlei Beschränkungen - etwa solcher Art, wie sie § 28 Abs. 2 AsylVfG enthält (zeitlich festgelegter Regelausschluss des in § 60 Abs. 1 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots).

Exilpolitische Aktivitäten iSv Art. 4 Abs. 3 d Richtlinie gehören damit nicht zu den (persönlichen) "Umständen" im Sinne des Art. 5 Abs. 3. Sie sind von diesen abzuschichten. Sie werden nicht von der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten erfasst. Soweit § 28 Abs. 2 AsylVfG dennoch solche Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt selbst geschaffener Nachfluchtgründe (iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG) zu erfassen sucht und sie - falls sie zeitlich nach Rücknahme oder Ablehnung des Erstantrages entstanden sind - vom Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der GFK regelmäßig ausschließt, ist diese Bestimmung hier wegen Widerspruchs zur gen. Richtlinie unanwendbar.

5.3 Soweit das Nds. Oberverwaltungsgericht - hiervon abweichend - die Qualifikationsrichtlinie für derzeit unanwendbar, dagegen § 28 Abs. 2 AsylVfG uneingeschränkt - bei ausdehnender Auslegung - für anwendbar hält (Urteil v. 16.6.2006 - 9 LB 104/06 -), kann dem aus verschiedenen Gründen nicht gefolgt werden:

- Zunächst hat der Senat nicht "in Anwendung" der GFK vom 28.7.1951 (BGBl. 1953 II S. 559) entschieden - obgleich das begehrt worden war (vgl. S. 5 unten d. Urt.-Abdr.). Anstelle der GFK hat der Senat eine ausdehnend interpretierte Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG angewandt, ohne sich mit Art. 33 GFK zu befassen: Art. 33 GFK wird im Senatsurteil nicht erwähnt - trotz des Gebotes seiner Anwendung (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG), das selbst durch § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht vollends aufgehoben und in Art. 5 Abs. 3 Richtlinie ("unbeschadet der GFK") ausdrücklich unterstrichen wird.

- Spätestens bei der Unterstellung der erstinstanzlich vertretenen Auslegung zu § 28 Abs. 2 AsylVfG als richtig (S. 13 unten d. Urt.-Abdr.) hätte der Senat im Rahmen seiner "Prüfung des § 60 Abs. 1 AufenthG" die Bestimmungen der GFK und damit das Refoulement-Verbot in den Blick nehmen müssen (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG). Das hat er nicht getan. Stattdessen ist er unter Bezug auf seine Rechtsprechung aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes (aus 2001 bzw. 2003) nach wie vor vom Erfordernis einer "Verfolgung" ausgegangen (s. dazu unten). Dabei betont der Senat, dass er keinen Anlass sehe, "diese Rechtsprechung aufzugeben" (S. 14 oben d. Urt.-Abdr.) - trotz Änderung der gesetzlichen Bestimmungen und der maßgeblichen Umstände (vgl. Beilage zum Asylmagazin 6/2006 m.w.N.). Der auf die Sondertagung in Tampere am 15./16.10.1999 zurückgehende Erwägungsgrund (2) der Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsbl. EU L 304/12) bleibt damit völlig unbeachtet.

- Die Befassung mit der Qualifikationsrichtlinie (S. 11 ff. d. Urt.-Abdr.), die der Senat erst ab 10. Oktober 2006 (Ablauf der Umsetzungsfrist) für anwendbar hält, wiegt die Nichtbefassung mit der zentralen GFK nicht auf. Dabei setzt sich der Senat mit der Vorwirkung dieser Richtlinie und ihrer Berücksichtigung im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht auseinander - obwohl nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 22.11.2005 (Rs. C-144/04 Mangold - NJW 2005, 3695 = DVBl., 2006, 107) schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen ist. Hiervon abgesehen "haben die nationalen Gerichte die Möglichkeit, im Hinblick auf Art. 10 Abs. 2 EGV schon ab Inkrafttreten einer Richtlinie insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe des nationalen Rechts - wenn auch ohne Berufung auf den gemeinschaftsspezifischen Anwendungsvorrang und nicht im Gegensatz zu sonstigen nationalen Vorschriften - richtlinienkonform auszulegen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.5.2005, a.a.O.)" (so Nds. OVG, B. v. 5.10.2005 - 11 ME 247/05 -).

- Dem gen. Urteil des EuGH schreibt der Senat (einschränkend) die Aussage zu, während der Umsetzungsfrist dürften nur keine nationalen Vorschriften (vom Gesetzgeber) erlassen werden, die geeignet seien, Richtlinienziele ernstlich in Frage zu stellen - was "nach der hier vertretenen Auslegung des § 28 Abs. 2 AsylVfG" nicht der Fall sei. Dabei wird übersehen, dass der EuGH bei seiner Entscheidung die Rechtsprechung (die Gerichte) und nicht den Gesetzgeber im Blick hatte.

- Unverständlich ist, aus welchen Gründen der Senat die gesetzliche Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG stark überdehnt und - abweichend vom Gesetz und vom Willen des Gesetzgebers - Ausnahmen von ihr nur noch unter äußerst eng begrenzten Voraussetzungen anerkennen will: Unter Übernahme des abzulehnenden "Koordinierungsgedankens" des OVG Koblenz (Beschl. v. 5.1.2006 - 6 A 10761/05.OVG -) lässt der Senat eine Ausnahme von der Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG "jeweils nur dann zugunsten des Asylbewerbers" zu (S. 10 d. Urt.-Abdr.), "wenn dessen Nachfluchtaktivitäten sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthaltes im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung darstellen oder wenn der Ausländer sich aufgrund seines Alters und Entwicklungsstandes im Herkunftsland noch keine feste Überzeugung bilden konnte (vgl ...)".

Eine derart enge, zeitlich weit zurückgreifende Ausnahme, die allein und nur die schon im Herkunfts- und Fluchtland sichtbar gewordenen Überzeugungen im Rahmen des § 28 Abs. 2 AsylVfG noch gelten lässt, zeitlich danach entstandene subjektive Nachfluchtgründe aber dem Ausschluss dieser Gründe gem. § 28 Abs. 2 AsylVfG überantwortet, ist zunächst nicht mit Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie, aber auch nicht mit dem Gesetzestext des § 28 Abs. 2 AsylVfG vereinbar. Sie entspricht aber auch nicht den dazu vertretenen Ansichten in Literatur und Rechtsprechung: Nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 AsylVfG werden nämlich nur solche "Umstände im Sinne des Absatzes 1" als Stützung eines Asylvorbringens ausgeschlossen, "die nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrages entstanden sind".

Sämtliche davor entstandenen Gründe, vor allem auch solche, die zeitlich nach dem Verlassen des Herkunftslandes erst im Exil entstanden sind, bleiben vom Ausschluss des § 28 Abs. 2 AsylVfG nach dem Gesetzestext unberührt. Es werden hiervon allein solche Umstände erfasst, "die strikt objektiv zeitlich nach Eintritt der Unanfechtbarkeit entstanden sind" (so Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Febr. 2006, § 28 Rdn. 50; vgl. auch Marx, AsylVfG-Kommentar, 6. Auflage 2005, § 28 Rdn. 115). Auf Asylbewerber, die es versäumt haben, bereits vorher angelegte oder entstandene exilpolitische Gründe und Umstände vorzutragen oder sie bewerten zu lassen, zielte § 28 Abs. 2 AsylVfG nach seinem Sinn und Zweck ersichtlich nicht ab: Es ging nur um solche Folgeantragsteller, die erst nach der Erfolglosigkeit ihres Erstantrages und als Reaktion hierauf völlig neue Gründe (neue Tatsachen) schaffen wollten (so Funke-Kaiser, aaO.; so auch VG Göttingen v. 2.3.05 - 4 A 38/03 -).

Dieser spezielle Entstehungszeitpunkt des § 28 Abs. 2 AsylVfG für neu geschaffene Umstände wird vom Senat nicht berücksichtigt, wenn er im gen. Urteil die "Fortführung einer - ... - im Heimatland vorhanden gewesenen und betätigten festen Überzeugung" einfordert (S. 10 d. Urt.-Abdrucks) und dafür den Zeitpunkt des "Verlassens des Herkunftslandes" festlegt (S. 12 aaO.). Derart weit brauchen die ohne weiteres berücksichtigungsfähigen Umstände und Gründe im Rahmen des § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht zurückzureichen: Der Ausschluss des § 28 Abs. 2 AsylVfG ist sehr viel enger gefasst.

- Der Senat scheint in diesem Zusammenhang des § 28 Abs. 2 AsylVfG den offenkundigen Willen des Gesetzgebers zu übersehen, eine Schutzlücke gerade nicht entstehen zu lassen. Vgl. insoweit VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159:

"Bei der Beurteilung, ob der Regelfall des § 28 Abs.2 AsylVfG vorliegt, ist deshalb, ausgehend von dem Willen des Gesetzgebers, keine Schutzlücke entstehen zu lassen, im Falle einer konkreten Gefahr zu prüfen, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht. Wenn ein solches Abschiebungsverbot besteht, liegt der Regelfall des § 28 Abs. 2 AsylVfG zumeist vor (zu einer weiteren Ausnahme unten 3.2.3.); liegt hingegen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vor, würde die vom Gesetzgeber nicht gewollte, im Übrigen auch verfassungsrechtlich bedenkliche Schutzlücke entstehen, so dass ein Fall außerhalb der Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG vorliegt."

Das Urteil des Senats führt jedoch zu einer Schutzlücke, indem es den Betroffenen im Ergebnis jeglichen Schutz versagt. Das ist mit den geltenden Vorschriften (GFK, Art. 5 Abs. 3 Richtlinie, § 60 AufenthG) nicht vereinbar:

"Art. 33 GFK ist unabhängig davon zu beachten, wie der innerstaatliche Gesetzgeber den Abschiebungsschutz im Einzelnen ausgestaltet." (so Marx, aaO., Rdn. 140).

Das ist auch vom Gesetzgeber angesichts des Refoulement-Verbotes aus Art. 33 GFK nicht gewollt gewesen:

"Sinn und Zweck der Neuregelung ist unverkennbar, den betroffenen Personenkreis zwar im Hinblick auf den weiter bestehenden subsidiären Schutz des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht ohne Schutz zu lassen, ..." (so Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Febr. 2006, Rdn. 47.1).

- Die Ausführungen des Senats zu § 60 Abs. 7 AufenthG berücksichtigen nicht, dass im Rahmen des Abs. 7 kein Ausnahmefall mehr angenommen werden kann, sondern nach der gesetzlichen Regel zu verfahren ist (so Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Febr. 2006, § 28 Rdn. 48.4). Im Ergebnis lässt der Senat die Betroffenen - entgegen dem Sinn und Zweck der Neuregelung (Funke-Kaiser, aaO., Rdn. 47.1) - schutzlos.

- Abweichend von der Senatsmeinung wird zudem eine Ausnahme von der Regel des § 28 Absatz 2 AsylVfG u.a. auch bei exilpolitischen Aktivitäten in Betracht gezogen, "deren Bedeutung und Ausmaß aber nicht zu einer Anerkennung geführt hatten", die jedoch in qualifiziertem Maße fortgesetzt wurden und die somit zu einer bloßen Verfolgungsgefahr führen können (so Funke-Kaiser in GK-AsylVfG § 28 Rdn. 49.1; VG Braunschweig, AuAS 2005, 191; VG Magdeburg, Asylmagazin 10/2005, 29; VG Mainz, U. v. 5.10.2005 - 7 K 282/05 M -).

- Der Senat hat unberücksichtigt gelassen, dass § 28 Abs. 2 AsylVfG mit seiner Ausschlusswirkung dann nicht zum Zuge kommt, wenn nach Abschluss des früheren Verfahrens objektiv neue Umstände eintreten, die eine abweichende Neubewertung erforderlich machen: "Zu denken ist (an) eine Verschärfung der Verfolgungspraxis des Heimatstaates oder ..." (so Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Febr. 2006, § 28 Rdn. 48.8; vgl. auch Marx, Kommentar z. AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 28 Rdn. 118, 120 f.). Solche (objektive) Verschärfung der Praxis in Vietnam wird jedoch von zahlreichen Beobachtern berichtet (vgl. u.a. ai-Jahresbericht 2006, S. 496 ff.: "politisch Andersdenkende" wurden verfolgt, die "Kontrolle des Internet noch weiter verschärft", "drastische Auflagen für die Durchführung öffentlicher Versammlungen" erlassen usw.; openDoors v. 5.4.2006: Niederbrennen der Häuser von Christen mit Billigung örtlicher Behörden; RadioVatikan v. 13.5.2006: Misshandlungen in Haft; spiegelonline v. 22.9.2006: Inhaftierung bzw. Ausweisung von Menschenrechtlern).

• Soweit der Senat letztlich die Ausschlusswirkung des § 28 Abs. 2 AsylVfG jedoch dahinstehen lässt und die Richtigkeit der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auslegung zu § 28 Abs. 2 AsylVfG unterstellt, hat er bei seiner Prüfung des § 60 Abs. 1 AufenthG (S. 13 d. Urt.-Abdr.) dann übersehen, dass § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG mit seinem Sinn und Zweck - Anwendung der GFK und Abstellen auf eine bloße "Bedrohung" - eine völlig neue Wertung abverlangt: Denn maßgeblich ist der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 GFK (VG Frankfurt a.M., Asylmagazin 2006, S. 23). Eine Identität zwischen "politischer Verfolgung" und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG - wie früher - gibt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr (VG Karlsruhe, Urt. v. 10.3.2005 - 2 K 12193/03 -).

Stattdessen hält der Senat in Anlehnung an das Asylrecht nach wie vor eine "Verfolgung wegen exilpolitischer Aktivitäten" für auch flüchtlingsrechtlich noch relevant (S. 14 oben d. Urt.-Abdr.). Auf eine Verfolgung jedoch kommt es heute nicht mehr an (so VG Frankfurt, Asylmagazin 2006, S. 23; VG Aachen, U. v. 24.2.2005 - 4 K 2284/02.A und 4 K 2416/02.A - ; VG Karlsruhe, U. v. 10.3.2005 - 2 K 12193/03 -, U. v. 14.3.2005 - 2 K 10264/03 -; VG Köln, U. v. 10.6.2005 - 18 K 4074/04.A - ; VG Lüneburg, U. v. 18.5. 2005 - 1 A 152/02 -, U. v. 3.11.2005 - 1 A 274/02 - und - 1 A 296/02 ; VG München, U. v. 18.8.2005 - M 9 K 04.50942 - ; VG Sigmaringen, U. v. 23.6.2005 - A 2 K 12290/03 -; VG Stuttgart, U. v. 17.1.2005 - 10 K 10587/04 -, U. v. 18.4.2005 - 11 K 12040/03 - und U. v. 10.6.2005 - 10 K 13121/03 -). Entscheidend ist eine Furcht vor Verfolgung, die nur glaubhaft zu machen ist: Mit seinem Wechsel der Perspektive von einer täter- zu einer opferbezogenen Betrachtung hat § 60 Abs. 1 AufenthG eine neue Stellung im Gesetzesgefüge erlangt (vgl. VG Stuttgart, InfAuslR 2005, S. 345).

- Diese neu zu orientierende Wertung kann sich in ihrer Breite nicht nur an Lageberichten des Auswärtigen Amtes und seinen Auskünften ausrichten - zumal in ihnen die neueren ai-Jahresberichte 2005 und 2006 unberücksichtigt geblieben sind. Insoweit geht der Senat von einer zu schmalen Tatsachenbasis aus (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 18.7. 2006 - 1 C 15.05 -). Es sind angesichts der Auskunftslage zu Vietnam vielmehr zahlreiche Auskünfte und Stellungnahmen einzubeziehen, welche den Umgang des vietnamesischen Staates mit Oppositionellen und "Abweichlern" aufzeigen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Aktivitäten der Auslandsvietnamesen von Deutschland aus in Vietnam eine "Resonanz" finden und eine Einreiseverweigerung wahrscheinlicher sei als eine strafrechtliche "Verfolgung" in Vietnam. Entscheidend ist, was ein exilpolitisch aktiver Asylbewerber bei seiner tatsächlichen Rückkehr in Vietnam an Repressalien zu erwarten hat. Dem vietnamesischen Staat geht es hierbei um eine möglichst totale Gesinnungskontrolle. Vgl. auch VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159:

"Die Strafen dienen im Wesentlichen dem Zweck, die politische Herrschaft des kommunistischen Systems in Vietnam zu sichern. Bei Art. 87 und 88 VStGB handelt es sich um Vorschriften, die ausschließlich die Äußerung von Auffassungen unter Strafe stellt, die von der Staatsdoktrin abweichen."

- Nicht nachvollziehbar ist, aus welchen Gründen die gutachterlichen Stellungnahmen des Sachverständigen Dr. Will vom Senat als "vage geblieben" (S. 16 oben d. Urt-Abdr.) bewertet werden. Dr. Will ist anerkannter Sachverständiger und wird von allen Verwaltungsgerichten zu Fragen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Vietnam konsultiert. Vgl. dazu beispielsweise VG Meiningen, InfAuslR 2006, 159:

"Dr. Gerhard Will (Schreiben vom 05. 09. 2000 an das VG Göttingen; Gutachten vom 10.9.2002 ASYLIS/JURIS VIE00050115) führt aus, der umfassende Strafanspruch Vietnams gegenüber den Bürgern werde durch das neue VStGB bekräftigt. Nach einem Artikel des Sicherheitsministers in der Parteizeitung Nhân Dân vom 18. 08. 2000 müsse die Regierung den feindlichen Kräften unter den im Ausland lebenden Vietnamesen mit der ganzen Härte des Gesetzes begegnen.

Art. 6 Abs. 1 VStGB regelt ausdrücklich, dass vietnamesische Staatsangehörige, die Verbrechen außerhalb Vietnams begehen, in Vietnam nach dem Strafgesetzbuch verfolgt werden können (so auch Auswärtiges Amt, Schreiben vom 19. 7. 2001 an das VG Stuttgart)."

Da rechtsstaatliche Strukturen in Vietnam nicht bestehen, kann die Verfolgung auf vielfältigste Weise und mit unterschiedlichsten Begründungen durchgeführt werden, besteht eine latente Bedrohung für vietnamesische Staatsangehörige, die sich im Ausland exilpolitisch betätigt haben. Hierbei ist davon auszugehen, dass dem vietn. Geheimdienst die exilpolitischen Betätigungen in der Regel bekannt sind.

- Unverständlich ist die Unterscheidung des Senats zwischen "der Behandlung vietnamesischer Oppositioneller im Inland" und jener von Rückkehrern (S. 16 Mitte d. Urt.-Abdr.): Sind Auslandsvietnamesen erst einmal in ihre Heimat zurückgekehrt, so werden sie (mindestens) ebenso behandelt wie Oppositionelle, die sich schon viele Jahre in Vietnam aufhalten. Wenn der Senat bei diesen offenbar eine "Verschärfung der Situation" aufgrund der neueren Nachrichten aus Vietnam anerkennen will, so gilt das auch - ggf. wegen abweichender Gesinnung erst recht - für Rückkehrer aus Europa.

- Es wird vom Senat übergangen, dass Art. 33 GFK gerade durch Abs. 1 des § 60 AufenthG umgesetzt werden soll - nicht durch dessen Abs. 7 mit seiner bloßen Regel bei gleichzeitigem Fehlen eines strikten Abschiebungsverbotes, wie es in Abs. 1 enthalten ist. Auch wird hier deutlich, dass der Senat nicht auf eine Bedrohungslage in Vietnam wegen der in Europa erlangten und u.U. hier gefestigten politischen Überzeugungen (Gesinnungen) abstellt, die im Falle der Rückkehr missliebig sein könnten, sondern auf Einwirkungen von Deutschland aus auf das gesellschaftliche Leben in Vietnam, auf eine so erzeugte "gesteigerte Aufmerksamkeit in Vietnam" (S. 17 d. Urt.-Abdr.). Diese ist jedoch nicht Voraussetzung für Ausgrenzungsmaßnahmen, die auch dann - beachtlich wahrscheinlich - ergriffen werden könnten, wenn es weder "Resonanz" noch "Aufmerksamkeit" gab, aber dafür eine regierungskritische Haltung gegenüber dem Regime in Vietnam.

Aus diesen Gründen kann dem Urteil des Senats vom 16. Juni 2006 nicht gefolgt werden, wobei der Hauptmangel der Entscheidung darin liegt, dass zentrale Vorschriften - die GFK mit ihrem Sinn und Zweck - materiell-rechtlich nicht berücksichtigt worden sind.

6. Ein Überwiegen der für eine Verfolgungsfurcht des Klägers sprechenden Umstände ist hier deshalb anzunehmen, weil der Kläger zum einen Buddhist ist und er sich zum andern exilpolitisch betätigt hat, als solcher aber aufgrund seiner Gesinnung und der inzwischen (aktuell) gewandelten Verhältnisse in Vietnam im Falle einer Rückkehr im Jahre 2006 ernsthaft bedroht ist iSv Art. 33 GFK, § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG.

6.1 Zunächst liegt es hier so, dass der Kläger aus einer Familie stammt, die schon seit 1986 in Vietnam unterdrückt wurde, weil sein Vater einer "losen Gruppierung" angehörte, die sich für bessere Lebensbedingungen in einem "anderen Vietnam" eingesetzt hat, die gegen "die zu hohen Steuern und Abgaben gekämpft" hat.

Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland, die angesichts seiner Erfahrungen mit dem vietnamesischen Regime offensichtlich einer schon im Herkunftsland angelegten "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie) bzw. dort gewachsenen Überzeugung entspricht, um Aktivitäten iSv Art. 4 Abs. 3 d der Richtlinie, welche sich auf eine offenbar langjährige Überzeugung bzw. "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründen. Der Kläger hat sich eine politische Meinung und Überzeugung gebildet, die Triebfeder für seine Aktivitäten geworden ist. Diese Überzeugung hat bereits in Vietnam ihre Wurzeln ("Ausdruck und Fortsetzung" einer entsprd. "Ausrichtung", Art. 5 Abs. 2). Diese Ausrichtung ist gem. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie in besonderem Maße geeignet, die vorgetragene Verfolgungsfurcht iSd Art. 2 c der Richtlinie (politische Überzeugung) zu belegen und zu begründen.

Darauf, dass der Kläger sein Folgevorbringen etwa nur auf (an sich nur) asylrelevante "Umstände" iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG stützt, die erst nach der Ablehnung seines Erstantrages (neu) entstanden seien und deshalb seit dem 1.1.2005 ggf. einem Ausschluss unterfielen (§ 28 Abs. 2 AsylVfG), kommt es hier wegen der Unanwendbarkeit des § 28 Abs. 2 AsylVfG erst gar nicht an.

6.2 Weiterhin liegt es hier so, dass der Kläger aus einer Buddhistenfamilie stammt und buddhistischen Glaubens ist.

Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden nämlich die Tendenzen religiöser Orientierung "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Die Bedrohungslage ergibt sich dabei auch aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002).

Neuerdings ist zudem ein neuer "Religionserlass" in Kraft getreten, der als "Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens" verstanden und kritisiert wird (ai-Jahresbericht 2005, S. 358).

Alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam sind - ohne Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften sind von der Volkspolizei und der Armee "brutal aufgelöst" worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben Selbstverbrennungen stattgefunden.

"Besonders rigide war das Vorgehen der Behörden gegen Gläubige der verbotenen Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams (VBKV), deren führende Vertreter nach wie vor unter Hausarrest standen" - so ai-Jahresbericht 2005, S. 358.

Nach neueren Berichten und Pressemitteilungen werden Gläubige in Vietnam misshandelt, schikaniert und gefoltert (vgl. Radio Vatikan v. 21.9. 2005: "Abschwören oder fliehen"; Kath.net v. 27.10.2005: "Christen nach geheimen Anweisungen der KP verfolgt"; Jesus.ch v. 7.10.2005: "Grenzschutzsoldaten misshandeln Christen"). Ein inhaftierter Christ ist erst kürzlich "an den Folgen von Misshandlungen" gestorben (so Radio Vatikan v. 13.5.2006). In einer Meldung des "Radio Vatikan", asianews, v. 21.9.2005 heißt es:

"Behörden in der Provinz Yuang Nai haben die Häuser von vier christlichen Familien zerstört, weil diese sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören. Das meldet die Nachrichtenagentur asianews. Nach ihren Angaben ist in Vietnam weiter eine richtiggehende Christenverfolgung in Gang."

Da der Kläger Buddhist ist, also einem Glauben anhängt, der von der kommunistischen Führung in Vietnam ebenso wenig toleriert wird wie jeder andere Glaube, ist er im Falle einer Rückkehr in besonderem Maße bedroht. Das kommunistische Regime betrachtet nämlich Anhänger einer Religion als "Abtrünnige" ihrer Ideologie und des vietnamesischen Staates, als Menschen, die eine falsche (abergläubische) Gesinnung haben.

Der Kläger dürfte im Hinblick auf seinen buddhistischen Glauben und seine Asylantragstellung somit als Andersdenkender, als "Abtrünniger" angesehen werden, falls er nach Vietnam zurückzukehren hätte (vgl. insoweit auch VG Meiningen, B. v. 18.6.2002 - 2 E 20341/02.Me -). Hierbei verbietet sich eine Unterscheidung nach öffentlichem und privatem Bereich religiöser Betätigung, weil ein öffentlicher Bereich in der Richtlinie 2004/83/EG nicht mehr gesondert genannt wird (vgl. VGH Baden-Württ. InfAuslR 2005, S. 296/S. 298; Art. 10 Abs. 1 b der Richtlinie).

6.3 Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - im August 2006 - stellt sich im Übrigen die Sach- und Rechtslage gegenüber dem 1993 abgeschlossenen Erstverfahren so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam in der Zwischenzeit sehr deutlich verschärft haben.