Rückkehr in den Irak für Christin unzumutbar.
Rückkehr in den Irak für Christin unzumutbar.
(Leitsatz der Redaktion)
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind daneben auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Sie ist begründet, wenn die vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn der Hauptsacheanspruch mit zumindest überwiegender Wahrscheinlichkeit besteht (Anordnungsanspruch), dem Antragsteller bei ungeregeltem Zustand bis zur Hauptsacheentscheidung eine über Randbereiche hinausgehende Rechtsverletzung droht (Anordnungsgrund) und diese Gefahr schwerer wiegt als die Nachteile, die dem Antragsgegner durch Erlass der einstweiligen Anordnung drohen. Dessen Nachteile sind dann besonders gewichtig, wenn die im Hauptsacheverfahren angestrebte Verpflichtung bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes angeordnet werden soll und ihre Folgen ins Falle einer Klageabweisung nicht oder nur schwer wieder rückgängig gemacht werden könnten. Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache setzt daher regelmäßig voraus, dass dem Antragsteller ohne die Vorwegnahme unzumutbare Nachteile drohen, die ihrerseits im Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, und eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Erfolg der Hauptsache spricht (Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl.. § 123 Rn. 14 bis 15 mwN; LSG M-V, Beschluss vom 12. Juli 2000, Az. L 4 B 33/00 RA. Bl. 10, 11); Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen, § 86 Abs. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 3 ZPO.
Vorliegend ist ein Anordnungsgrund fraglich. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum Bundessozialhilfegesetz (BSF-IG) nahm zutreffend einen Anordnungsgrund regelmäßig nur dann an, wenn die gewährten Leistungen das zum Lebensunterhalt Unerlässliche, das bei 80 bzw. - in Anlehnung an § 25 Abs. 1 BSHG - 75 von Hundert der Regelsatzleistungen angesetzt wurde, unterschritten (vgl. Berlit Info also 2005 S. 3, 9 m. w. N.). Dieser Rechtsprechung hat sich sowohl das angerufene Sozialgericht als auch das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern ausdrücklich angeschlossen (Az. L 8 B 46/05 AS). Soweit ein Teil der Literatur und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Berlit a. a. O.) zur effektiven Rechtschutzgewähr einen Anordnungsgrund bei jeder Unterschreitung des notwendigen Lebensunterhalts angenommen haben, kann dem nicht, insbesondere nicht im Fall eines Streits um Gewährung der erhöhten Leistung nach § 2 AsylbLG gefolgt werden. Die abweichende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung stellt im Wesentlichen darauf ab, dass das Gesetz, also das damalige BSHG, dem Hilfebedürftigen nur unter eng definierten Voraussetzungen auferlegte, mit gekürzten Regelsatzleistungen auskommen zu müssen. Im AsylbLG findet sich indes eine Umkehr dieses Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Hier mutet der Gesetzgeber dem Hilfebedürftigen regelmäßig die - unter den Regelsätzen des SGB XII liegenden, jedoch auch nicht auf das Unerlässliche des § 1 a AsylbLG gesenkten - Leistungen zu. Wenn der Gesetzgeber diese Regelleistungen für einen Zeitraum von 36 Monaten ausnahmslos für angemessen hält, so kann ihre Gewährung bis zur Hauptsacheentscheidung regelmäßig keinen wesentlichen Nachteil gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG bedeuten (SG Neubrandenburg, Beschluss vom 12. Dezember 2005, Az. S 6 ER 91/05 AY; vgl. auch SG Würzburg, Beschluss vom 01. März 2005, Az. S 15 AY 2/05). Darauf, ob die Leistungen nach § 3 AsylbLG teils als Bar-, teils als Sachleistungen gewährt werden, kommt es hierbei nicht an.
Gleichwohl besteht im vorliegenden Fall - abweichend von der dargestellten Regel - ein Anordnungsgrund. Denn Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund korrespondieren derart miteinander, dass an diesen um so geringere Anforderungen zu stellen sind je stärker jener ist und auch geringe Einbußen genügen können, wenn ein Obsiegen in der Hauptsache (Anordnungsanpruch) sehr wahrscheinlich ist. Dies ist vorliegend der Fall.
Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist das SGB XII abweichend von § 3 AsylbLG auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Unstreitig hat die Antragstellerin bereits über eine Dauer von mehr als 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen. Fraglich ist indes, ob sie die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusste. Rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG liegt immer dann vor, wenn das Verhalten erkennbar der Verfahrensverzögerung und damit der Aufenthaltsverlängerung dient, obwohl eine Ausreise möglich und zumutbar wäre (LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 12. Oktober 2005, Az. L 7 AY 1105 ER m. w. N.). Rechtsmissbrauch im Sinne dieser Norm umfasst auch, und zwar exemplarisch (zutreffend: Hohm NVwZ 2005 S. 388, 390), eine nicht erfolgte freiwillige Ausreise, obwohl diese möglich und zumutbar wäre. Das Gericht hält in diesem Zusammenhang ausdrücklich an seiner Rechtsprechung fest (Beschluss vom 12. Dezember 2005, Az. S 6 ER 91/05 AY; ebenso: SG Würzburg, Beschluss vom 01. März 2005, Az. S 15 AY 2/05). Das AsylbLG definiert den Begriff des Rechtsmissbrauchs nicht selbst. Seinem Wortsinn nach bedeutet er die Ausübung eines subjektiven Rechts, weil diese zwar formell dem Gesetz entspricht, die Geltendmachung aber wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls treuwidrig ist (Creifelds, Rechtswörterbuch, 15. Auflage, München 1969). Ein Rechtsverletzung ist mithin vom Begriff des Rechtsmissbrauchs nicht notwendig umfasst. Nach § 60 a Aufenthaltsgesetz Geduldete verletzen durch ihren weiteren Aufenthalt zwar nicht das Recht, gleichwohl ist ihnen aber nicht etwa ein (Ersatz-) Aufenthaltsrecht erteilt worden, sondern werden sie aus dem bloßen Reflex darauf, dass der Staat die mit Zwangsmitteln betriebene Vollstreckung eines Titels aus vielerlei Gründen aussetzen, aufschieben oder durch Auswahlverfahren regeln will, geduldet. Dieses Recht, von der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreise - vorübergehend - verschont zu werden, lässt die Rechtspflicht, auszureisen, wenn dies möglich und zumutbar ist, unberührt. Wer dieser Pflicht nicht nachkommt missbraucht daher sein (Duldungs-) Recht in dem von § 2 AsylbLG gemeinten Sinne zur Aufenthaltsverlängerung.
Allerdings ist eine Rückkehr der Antragstellerin in den Irak vorliegend zwar möglich, jedoch aktuell nicht zumutbar. Denn die angespannte Situation im Irak hindert nicht nur Zwangsweise Rückführungen sondern macht, jedenfalls im vorliegenden Fall einer Christin aus dem Zentralirak (Bagdad), eine freiwillige Rückkehr unzumutbar. Denn die allgemein angespannte Sicherheitslage im Irak ist sowohl regional als auch personenbezogen unterschiedlich. Christliche Frauen geraten landesweit zunehmend unter Druck extremistischer Gruppen, wobei ihnen besonders starke Abneigungen im Süden des Landes sowie im gesamten sunnitischen Dreieck - also einschließlich Bagdad - entgegengebracht wird (UNHCR: Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, aktualisierte Fassung, Oktober 2006, S. 3). Zwar ist das Verhältnis zwischen Kurden und Christen hingegen insgesamt von mehr gegenseitiger Toleranz geprägt, so dass Christen in den kurdisch kontrollierten Gebieten im Nordirak im Allgemeinen einem geringeren Anpassungs- und Verfolgungsdruck unterliegen (UNHCR a.a.O. S. 4f). Allerdings rät UNHCR dringend von der freiwilligen Einreise solcher Personen in den Nordirak ab, die nicht von dort stammen. Denn diesen Personen werde von der kurdischen Regionalregierung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bereits die Einreise in die nordirakischen Gebiete verwehrt. Selbst wenn einzelnen solcher Personen die Einreise in den Nordirak gestattet werden sollte, könnten sie im Nordirak nur unter größten Schwierigkeiten physischen Schutz von Leib und Leben, einen legalen Aufenthaltsstatus oder den Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt beanspruchen. Eine enge Einbindung in familiäre, kommunale und politische Strukturen stelle im Nordirak eine absolute Grundvoraussetzung für eine Teilhabe an grundlegenden zivilen, politischen und sozioökonomischen Rechten und die erfolgreiche Wiedereingliederung am Herkunftsort dar (UNHCR: Position zur Möglichkeit der Rückkehr irakischer Flüchtlinge, September 2005, Seite 3). Nach Überzeugung des Gerichts hat sich die geschilderte Lage durch die aktuelle Entwicklungen ("Karikaturenstreit") noch weiter dahin zugespitzt, dass insbesondere Christen zu stellvertretenden Angriffsobjekten im gesamten muslimischen Raum werden könnten. Daher erscheint die der Antragstellerin mögliche freiwillige Rückkehr gegenwärtig nicht zumutbar. Die Antragstellerin würde daher in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit obsiegen. Diese hohe Wahrscheinlichkeit verleiht vorliegend dem Anordnungsanspruch ein solches Gewicht, dass entgegen der Regel, nach der ein weiterer Bezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG anstelle der höheren Bezüge nach § 2 AsylbLG keinen wesentlichen Nachteil darstellt, auch ein Anordnungsgrund gegeben ist. Wegen dieser hohen Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache ist auch eine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung vorliegend vertretbar.