VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 07.09.2006 - 4 K 3661/04.A - asyl.net: M8887
https://www.asyl.net/rsdb/M8887
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Baath, Christen, Chaldäer, Gruppenverfolgung, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Bekleidungsvorschriften, interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Klage ist begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in seinen Rechten im Sinne des §113 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Zwar kann davon ausgegangen werden, dass durch den Sturz des Regimes Saddam Husseins die früheren Verfolgungsgründe weggefallen sind und derzeit das Leben und die Freiheit der Klägerin durch keine staatlichen Stellen des Irak wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gefährdet sind. Ihr droht jedoch wegen ihrer Religionszugehörigkeit eine nichtstaatliche Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Die hierfür erforderliche überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung besteht nach Überzeugung des Gerichts bei vorliegender Fallgestaltung deshalb, weil es sich bei den Klägerin um eine - vor über sechs Jahren aus dem Irak ausgereiste - Christin aus N. handelt und nicht festgestellt werden kann, dass sie in ihrer Heimat auf die Hilfe dort lebender Angehöriger zurückgreifen kann. Zwar geht die Kammer davon aus, dass im Irak eine generelle Verfolgung von Christen allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit derzeit nicht stattfindet, vgl. zuletzt Urteil vom 2. März 2006 - 4 K 1960/02.A - mit weiteren Nachweisen, es kann jedoch nicht außer Betracht bleiben, dass es in jüngster Zeit im Raum N., woher die Klägerin stammt, verstärkt zu Übergriffen und Anschlägen gegen Christen oder christliche Einrichtungen gekommen ist. So wurden beispielsweise am 00.00.00 nahezu zeitgleich Anschläge auf fünf christliche Kirchen in N. und C. verübt, die mindestens 15 Todesopfer forderten. Ob vor diesem Hintergrund davon ausgegangen werden kann, dass im Raum N. Christen generell mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben, vgl. hierzu VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juni 2006 - A S 571/05 - S. 17 und 19 des Urteilsabdrucks, kann dahinstehen. Im Fall der Klägerin kommt nämlich hinzu, dass christliche Frauen landesweit zunehmend unter Druck extremistischer Gruppen geraten, sich traditionell islamischen Vorstellungen entsprechenden Bekleidungsvorschriften anzupassen und sich zu verschleiern, vgl. UNHCR vom Oktober 2005 und Anmerkung zur Lage der Frauen im Irak vom November 2005, und dies in einer Stadt wie N., in der aufständische Gruppierungen wie Ansar Al-Sunna und islamistische Milizen die faktische Kontrolle über ganze Straßenzüge und Stadtteile übernommen haben, verstärkt gilt. Berücksichtigt man noch, dass die Klägerin vor über sechs Jahren den Irak verlassen und ein zweijähriges Kind zu versorgen hat und sich ihre Eltern seit 2003 nicht mehr im Irak aufhalten, so spricht - zumal der Ehemann der Klägerin kein irakischer Staatsangehöriger ist - in der Gesamtschau dieser Umstände alles dafür, dass sie im Fall ihrer Rückkehr in ihren Heimatort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit religiös bedingten Verfolgungen rechnen müsste. Eine hinreichende Verfolgungssicherheit in anderen Landesteilen, insbesondere den kurdisch regierten Provinzen im Nordirak, lässt sich bei vorliegender Fallgestaltung nicht feststellen. Zwar spricht vieles dafür, dass Christen in diesen Gebieten im Regelfall eine inländische Fluchtalternative eröffnet ist, vgl. hierzu im einzelnen VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juni 2006 - A S 571/05 - S. 20 ff des Urteilsabdrucks, es kann hier aber nicht außer Betracht bleiben, dass die Klägerin als alleinstehende Frau - eine freiwillige Ausreise ihres syrischen Ehemannes kann nicht ohne weiteres unterstellt werden - durch Übergriffe islamistischer Gruppen, etwa auch Anhänger der im Nordirak aktiven Kurdisch-Islamischen Union (KIA), vgl. hierzu nunmehr UNHCR, Hintergrundinformation zur Situation der christlichen Bevölkerung vom Juni 2006, in weitaus stärkerem Maße gefährdet ist, als etwa Frauen, denen ihre familiäre Einbettung einen gewissen Schutz verleiht. Es kommt hinzu, dass die Klägerin die Landessprache nicht beherrscht und ein Kind zu versorgen hat, so dass trotz möglicher Hilfe durch chaldäische Gemeinden zweifelhaft erscheint, ob sie in der Lage wäre, dort auf Dauer wirtschaftlich zu existieren.