VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 07.04.2006 - 19 AE 311/06 - asyl.net: M8903
https://www.asyl.net/rsdb/M8903
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Folgeantrag, Christen, Konversion, Apostasie, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Existenzminimum
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 71 Abs. 1
Auszüge:

1. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf die Durchführung eines Asylfolgeverfahrens.

Von seinem beabsichtigten Übertritt vom Islam zum Christentum war in der Antragsschrift von Ende Februar 2006 noch nicht die Rede. Diese erstmals mit Schriftsatz vom 6. April 2006 bekundete Absicht kann aber ebenfalls keinen Anspruch auf Durchführung eines Folgeverfahrens begründen. Zwar ist nach dem kürzlich bekannt gewordenen Fall xxx anzunehmen, dass Personen, die aus ernsthafter innerer Überzeugung vom Islam zum Christentum übergetreten sind, in Afghanistan mit politischer Verfolgung zu rechnen haben. Diese Voraussetzungen sind jedoch im Falle des Antragstellers offensichtlich nicht erfüllt. Der Antragsteller ist noch nicht zum Christentum übergetreten, sondern besucht zur Zeit lediglich einen Taufvorbereitungskurs; mit seiner Taufe wäre frühestens in 2 Monaten zu rechnen.

2. Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen seines Verfahrens im Hinblick auf § 60 Abs. 7 AufenthG (früher § 53 Abs. 6 AuslG). Auch auf allgemeine Gefahren kann sich der Antragsteller nicht berufen. Die Kammer ist nach wie vor der Ansicht, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG auch nicht in analoger Anwendung vorliegen. Denn es kann nicht angenommen werden, dass in Afghanistan landesweit eine Gefahrenlage besteht, in der von der Abschiebung Betroffene gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der extremen Gefahr ausgesetzt wären, mangels ausreichender Existenzmöglichkeiten an Hunger oder Krankheit zu sterben (siehe dazu VerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324, 328).

Der abweichenden Ansicht des Sachverständigen Dr. xxxx kann nicht gefolgt werden. Dieser hatte ausgeführt, dass die Abschiebung eines Ausländers nach Afghanistan selbst im Falle eines jungen alleinstehenden Mannes bedeute, ihn gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen auszuliefern, weil die Lage zurückkehrender Flüchtlinge so katastrophal sei, dass sie unmittelbar eine Existenzgefährdung für die Rückkehrer darstelle (siehe seine Stellungnahme vom 25. Januar 2006 an das VG Hamburg, S. 5 u. 14). Der Sachverständige verkennt bereits, dass das Aufstellen der Gefahrenprognose nicht seiner Kompetenz unterliegt, sondern eine Frage der selbständigen tatrichterlichen Beweiswürdigung ist. Er soll insoweit dem Gericht lediglich die tatsächlichen Grundlagen vermitteln. Die von ihm geschilderte humanitäre Lage in Afghanistan entspricht dem Bild eines der am wenigsten entwickelten Staaten der Welt: Mangelhafte Ernährungslage, hohe Kindersterblichkeit, fehlender Wohnraum, hohe Arbeitslosigkeit und ein unzureichendes Gesundheits- und Bildungswesen. Aus diesen Besorgnis erregenden Umständen kann jedoch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, dass ein Ausländer in näherer Zeit nach seiner Abschiebung nach Afghanistan dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wäre. Flüchtlinge leben vielmehr auch nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. xxxx über Jahre in ihren Zeltlagern (dazu S. 11 ff. der Stellungnahme vom 25. Januar 2006). Der vom Sachverständigen geschilderten reellen Gefahr einer allmählich voranschreitenden Verelendung der Flüchtlinge - infolge derer hunderte Menschen, insbesondere Kinder, täglich stürben (dazu S. 13, 26 der Stellungnahme vom 25. Januar 2006) - kann von Rechts wegen nur durch eine Anordnung aus humanitären Gründen im Sinne von § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG begegnet werden. Ein unmittelbarer Rechtsanspruch des Antragstellers auf eine derartige Anordnung, die von der Behörde für Inneres der Freien und Hansestadt Hamburg zu treffen wäre, besteht allerdings nicht (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19. September 2000, BVerwGE 112 S. 63 ff.). Die Ausländerbehörde trägt der humanitären Lage in Afghanistan derzeit zeitlich nur dadurch Rechnung, dass Familien mit Kindern erst nachrangig abgeschoben werden sollen.