OLG München

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OLG München, Beschluss vom 19.09.2006 - 34 Wx 80/06 - asyl.net: M8917
https://www.asyl.net/rsdb/M8917
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, sofortige weitere Beschwerde, Verfahrensrecht, Verfahrensmangel, Erledigung der Hauptsache, Abschiebung, Feststellungsantrag, Feststellungsinteresse, Verfahrensgegenstand, Rechtsweggarantie, Ehegatte, Anhörung, Scheinehe, örtliche Zuständigkeit, Amtsgericht, gesetzlicher Richter, Prozessbevollmächtigte, Sachaufklärungspflicht, Heilung, Unbeachtlichkeit
Normen: GG Art. 19 Abs. 4; AufenthG § 62; FreihEntzG § 5 Abs. 3 S. 2; FreihEntzG § 4 Abs. 1; AufenthG § 106 Abs. 2 S. 2; FreihEntzG § 12; FreihEntzG § 5 Abs. 1; FGG § 12; GG Art. 104 Abs. 1; EMRK Art. 5
Auszüge:

2. Die sofortige weitere Beschwerde ist gemäß § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 3 Satz 2, § 7 Abs. 1 FreihEntzG, § 27 Abs. 1 Satz 1, § 29 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4, § 22 Abs. 1 FGG zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben worden.

Der Zulässigkeit des Rechtsmittels steht die zwischenzeitlich erfolgte Abschiebung des Betroffenen nicht entgegen. Durch die Abschiebung des Betroffenen hat sich das Verfahren in der Hauptsache erledigt. Der Betroffene hat jedoch durch Umstellung des Beschwerdeantrags dahingehend, dass die Rechtswidrigkeit der Verlängerung der Freiheitsentziehungsmaßnahme festgestellt werden soll, sein Rechtsschutzbegehren den geänderten Umständen in zulässiger Weise angepasst.

3. Gegenstand der Senatsentscheidung ist vorliegend auch die Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung des Amtsgerichts Nürnberg.

b) Gegenstand der Überprüfung durch das Gericht der weiteren Beschwerde ist grundsätzlich die Entscheidung des Beschwerdegerichts und damit das, worüber das Beschwerdegericht eine Entscheidung getroffen hat. Dem entspricht es, dass das Rechtsbeschwerdegericht nur zu einer rechtlichen Überprüfung, nicht aber zu einer eigenen Sachverhaltsermittlung befugt ist (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 FGG, §§ 546, 559 ZPO). Wie sich der Prüfungsgegenstand im Rahmen eines Fortsetzungsfeststellungsantrags bestimmt, ist bisher nicht abschließend geklärt.

Der Beschwerdeführer hatte schon mit seiner Beschwerde ausdrücklich die fehlende örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg sowie die Tatsache gerügt, dass sein anwaltlicher Vertreter nicht zur mündlichen Anhörung geladen worden war. Das Landgericht hat sich in seinem Beschluss auch mit beiden die amtsgerichtliche Entscheidung betreffenden Verfahrensfragen auseinandergesetzt. Gegenstand der Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist daher vorliegend auch die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Amtsgerichts Nürnberg.

4. Das Rechtsmittel hat jedoch nach der Meinung des Senats im Ergebnis keinen Erfolg.

Diese rechtliche Würdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.

Auch ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Satz 2 FreihentzG, wonach bei der gerichtlichen Entscheidung über die Freiheitsentziehung der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte des Betroffenen anzuhören ist, liegt nicht vor. Denn zum ersten ergibt sich bereits aus der Anhörung des Betroffenen vor dem Amtsgericht Nürnberg, dass er von seiner Ehefrau dauernd getrennt lebte; zum zweiten ergibt sich aus dem bei den Akten befindlichen Schreiben der Ausländerbehörde vom 3.5.2006, dass es sich um eine Scheinehe zur Vorbereitung einer Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG handelt.

c) Der Beschwerdeführer beanstandet allerdings zu Recht, dass der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 28.3.2006 an zwei Verfahrensmängeln leidet, was das Landgericht Nürnberg-Fürth verkannt hat:

(1) Zum ersten hat das Amtsgericht Nürnberg zu Unrecht seine örtliche Zuständigkeit angenommen. Örtlich zuständig auch zur Entscheidung über die Haftverlängerung und damit gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist das die Abschiebungshaft erstmalig anordnende Gericht, dessen Zuständigkeit sich nach § 4 Abs. 1 FreihEntzG bestimmt. Nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann dieses Gericht für die Entscheidung über die Fortdauer der Abschiebungshaft das Verfahren durch Beschluss an das Gericht abgeben, in dessen Bezirk die Abschiebungshaft vollzogen wird. Kommt es zu einer solchen Abgabe nicht, verbleibt es für die Entscheidung über die Haftfortdauer bei der bisherigen Zuständigkeit. Dies ergibt sich aus § 12 FreihEntzG, wonach die in § 4 FreihEntzG genannten, eine örtlich Zuständigkeit des Gerichts begründenden Tatsachen im Verfahren über die Fortdauer der Haft nicht maßgeblich sind (siehe auch OLG Zweibrücken FGPrax 2000, 212/213; OLG München FGPrax 2006, 185). Die Beschwerdeentscheidung des den beiden Amtsgerichten übergeordneten Landgerichts kann an der fehlenden Zuständigkeit für die Verlängerungsanordnung rückwirkend nichts ändern.

(2) Zum zweiten hat das Amtsgericht Nürnberg den Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen nicht zur mündlichen Anhörung nach § 5 Abs. 1 FreihEntzG geladen, obwohl das Gericht schon dem Antrag der Ausländerbehörde (siehe Bl. 1 d.A.) hätte entnehmen können, dass der Betroffene einen Verfahrensbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Rechte beauftragt hatte. Unabhängig davon wäre das Gericht, seine örtliche Zuständigkeit unterstellt, nach § 12 FGG verpflichtet gewesen, die für die vorangegangene Haftanordnung bestehenden Akten beizuziehen, aus denen sich ebenso die Bestellung ergeben hätte. Einem Verfahrensbevollmächtigten ist grundsätzlich Gelegenheit zu geben, an einer gerichtlichen Anhörung teilzunehmen, da andernfalls der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt wird (vgl. OLG Celle InfAuslR 1999, 462).

d) Allerdings führen beide Fehler nach Auffassung des Senats nicht zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehungsmaßnahme, so dass der Senat den Feststellungsantrag abweisen würde.

(1) Dies folgt zunächst aus der Bewertung von Art und Schwere der Verstöße im Licht der grundgesetzlichen Verfahrensgarantien des Art. 104 Abs. 1 GG.

aa) Art. 104 Abs. 1 GG verstärkt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt dergestalt, dass die Einhaltung der Formvorschriften zum Verfassungsgebot erhoben wird. Jedoch ist es Sache der Fachgerichte, den Regelungsgehalt der gesetzlich vorgeschriebenen Förmlichkeiten einer Freiheitsbeschränkung im Einzelnen verbindlich festzustellen. Die Freiheit der Person darf nur in einem mit wesentlichen formellen Garantien ausgestatteten Verfahren entzogen werden. Inhalt und Reichweite der Formvorschriften eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes sind von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten, schon um einer Aushöhlung und Entwertung des Grundrechts über das Verfahrensrecht entgegenzuwirken. Jenseits dieser Grenzen verbleibt den Gerichten bei der Auslegung solcher Formvorschriften aber Raum, sich zwischen mehreren möglichen Deutungen des Gesetzes zu entscheiden. Die Gerichte sind nicht gehalten, unter Zurückstellung anderer Gesichtspunkte jeweils der Lesart den Vorzug zu geben, die das Individualrecht über das von der Verfassung Gebotene hinaus mit dem denkbar größten Schutz umgibt (BVerfGE 65, 317/322 f.).

bb) Die unterlassene Verständigung des Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen stellt keinen derart gravierenden Rechtsverstoß dar, als dass er die Rechtswidrigkeit der Haftfortdauer zur Folge hätte. Das Gewicht eines Rechtsverstoßes bemisst sich danach, in welcher Form und mit welcher Intensität die geschützte Rechtsposition - in diesem Fall das rechtliche Gehör des Betroffenen - beeinträchtigt ist. Dazu ist festzustellen, dass der Betroffene persönlich angehört worden ist und sich geäußert hat.

Im Übrigen ist für die Beurteilung der Schwere des Rechtsverstoßes auch der weitere Verfahrensfortgang heranzuziehen. Der Verfahrensverstoß erscheint vorliegend auch deshalb in einem milderen Licht, weil das Landgericht bei der von ihm durchgeführten Anhörung des Betroffenen den Verfahrensbevollmächtigten beigezogen hat. Ob auch aus Kausalitätsgründen der Verstoß als (rückwirkend) geheilt anzusehen wäre, weil wegen Nachholung des rechtlichen Gehörs ausgeschlossen werden kann, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Mangel beruht (VerfGH Berlin JR 2002, 233 ; siehe Schmidt in Keidel/Kuntze/Winkler FGG 15. Aufl. § 12 Rn. 175; § 27 Rn. 17/19), kann dahinstehen.

cc) Auch der Verstoß gegen die Vorschriften des Freiheitsentziehungsgesetzes zur örtlichen Zuständigkeit (§ 4 Abs. 1, § 12 FreihEntzG) und damit gegen das Gebot des gesetzlichen Richters begründet bei dieser Konstellation nicht die Feststellung der Rechtswidrigkeit. Der Verfahrensverstoß ist im konkreten Fall nicht so schwerwiegend, als dass die in der Sache richtige Entscheidung dahinter zurücktreten müsste.

Die irrtümlich angenommene örtliche Zuständigkeit stellt keinen Willkürakt dar. Immerhin handelt es sich beim Amtsgericht Nürnberg um ein nach den Bestimmungen des Freiheitsentziehungsgesetzes grundsätzlich örtlich zuständiges Gericht (§ 4 Abs. 1 FreihEntzG), dessen Zuständigkeit hier - wie bereits ausgeführt - ausnahmsweise nicht gegeben ist. Damit ist zwar gegen den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verstoßen, jedoch begründet nach der Rechtsprechung nur ein willkürlicher Verstoß, also eine Entscheidung, die auf sachwidrigen Erwägungen beruht oder in der Sache offensichtlich unhaltbar ist, die Verfassungswidrigkeit der Entscheidung (Classen in v.Mangoldt/Klein/Starck GG 5. Aufl. Art. 101 Rn. 29 ff.; Sachs/Degenhart GG 3. Aufl. Art. 101 Rn. 18 f.).

Die fehlende örtliche Zuständigkeit führt auch am Maßstab des Art. 5 MRK gemessen nicht zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Abschiebungshaft ab dem Zeitpunkt der fehlerhaften gerichtlichen Entscheidung. Nach Art. 5 MRK ist die Freiheitsentziehung grundsätzlich rechtmäßig, wenn sie aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung stattfindet. Einzelne Verfahrensfehler haben nicht zwangsläufig die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung zur Folge (EGMR NJW 2000, 2888). Da es nicht Sinn und Zweck des Art. 5 MRK ist, einen Staat für die Verletzung gegebenenfalls noch so wichtiger Formvorschriften zu "bestrafen", führt die Verletzung von Zuständigkeits- oder Formvorschriften für sich genommen, d.h. ohne unmittelbare materiellrechtliche Konsequenzen, grundsätzlich nicht zur Feststellung einer Rechtswidrigkeit (BGH NVwZ 2006, 960). Art. 5 MRK sichert zwar auch den Anspruch auf den gesetzlichen Richter; die Ausgestaltung der Zuständigkeit ist jedoch Sache des nationalen Rechts. Dessen Auslegung fällt in die Kompetenz der innerstaatlichen Gerichte (IntkommEMRK/Renzikowski Art. 5 Rn. 124). Ein Fehler in der Anwendung nationaler Zuständigkeitsvorschriften hat nach Auffassung des Senats nur dann die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 MRK zur Folge, wenn Willkür oder ein vergleichbar schwerwiegender Verstoß vorliegt. Das ist - wie bereits ausgeführt - hier nicht der Fall.

(2) Überdies spricht § 561 ZPO gegen die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung.

aa) Nach dieser Vorschrift, auf die § 27 Abs. 1 Satz 2 FGG ausdrücklich verweist, ist ein Rechtsmittel trotz Rechtsverletzung auch dann zurückzuweisen, wenn diese Rechtsverletzung für die Entscheidung in der Sache nicht kausal war, wenn also die Entscheidung selbst aus anderen Gründen sich als richtig darstellt. Die erwähnte Vorschrift gründet erkennbar auf dem Gedanken der Prozessökonomie und dürfte einen verallgemeinerungsfähigen prozessualen Grundsatz beinhalten. Der Rechtsmittelführer ist in der Regel nur durch das Ergebnis in der Sache beschwert. Die vom Gesetzgeber geschaffenen prozessualen Regeln verfolgen den Zweck, eine richtige Anwendung des materiellen Rechts sicherzustellen. Durch einen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften wird der Betroffene dann nicht beschwert, wenn die Entscheidung in der Sache trotz des Verfahrensverstoßes nicht zu beanstanden ist. So läge der Fall hier.

5. Im Hinblick auf die oben genannte Entscheidung des Oberlandesgerichts Oldenburg (InfAuslR 2006, 333/334), die auf weitere Beschwerde in einer Freiheitsentziehungssache ergangen ist, sieht sich der Senat an einer Zurückweisung der sofortigen weiteren Beschwerde gehindert. Er legt deshalb gemäß § 28 Abs. 2 FGG die sofortige weitere Beschwerde dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vor.