VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 11.10.2006 - 6 K 4487/04.A - asyl.net: M8948
https://www.asyl.net/rsdb/M8948
Leitsatz:

Der türkische Staat ist grundsätzlich bereit und in der Lage, geschiedene Frauen vor Übergriffen durch den früheren Ehemann zu schützen.

 

Schlagwörter: Türkei, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Familienehre, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Darlegungserfordernis, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der türkische Staat ist grundsätzlich bereit und in der Lage, geschiedene Frauen vor Übergriffen durch den früheren Ehemann zu schützen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

Die von der Klägerin zu 1. vorgetragene und letztlich an ihr Geschlecht (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) anknüpfende Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, namentlich ihren früheren Ehemann, ist indes nicht geeignet, ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 4 lit. c) AufenthG zu begründen. Denn ungeachtet der Frage, ob eine vom früheren Ehemann bzw. Vater ausgehende ernste und erhebliche Gefahr für Leib und Leben der Kläger überhaupt angenommen werden kann, hat die Klägerin zu 1. bereits nicht glaubhaft gemacht, beim türkischen Staat, wie von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG gefordert, um Schutz vor den Verfolgungshandlungen ihres früheren Ehemannes, die ihrem Vortrag nach bereits in der Türkei stattgefunden und in der Bundesrepublik Deutschland lediglich ihre Fortsetzung gefunden haben, nachgesucht und damit eine mögliche interne Schutzalternative erfolglos in Anspruch genommen zu haben. Sie hat hierzu im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt keinerlei Angaben gemacht. Erst in der mündlichen Verhandlung, und hier auch erst auf entsprechende Nachfrage, hat sie angegeben, sich mehrmals bei der Polizei über ihn erfolglos beschwert und ihn auch angezeigt zu haben.

Ihre diesbezüglichen Angaben sind aber unsubstanziiert und in dieser Form nicht glaubhaft. Nach dem Wortlaut des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG ("erwiesenermaßen") muss feststehen, dass der türkische Staat nicht willens oder nicht in der Lage gewesen ist, Schutz vor der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu gewähren. Der von Verfolgung Bedrohte muss daher, weil es sich auch insoweit um persönliche Umstände handelt, konkrete Tatsachen und Umstände bezeichnen, aus denen sich ergibt, dass er erfolglos um Schutz nachgesucht hat. Er muss die persönlichen Umstände, Verhältnisse und Erlebnisse mit Blick auf das Schutzbegehren schlüssig und hinsichtlich Ort und Zeit detailliert und vollständig darlegen (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 104 m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG)).

Dass der türkische Staat nicht willens oder in der Lage (gewesen) ist, in derartigen Fällen mit rechtsstaatlichen Mitteln Hilfen anzubieten und die Kläger wirksam vor den Bedrohungen des früheren Ehemanns bzw. Vaters, die wohl dem Bereich der Straftaten "zum Schutz der Familienehre" (sog. "Ehrenmord") zuzuordnen sind, zu schützen, ist nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen über die Verhältnisse in der Türkei ebenfalls nicht anzunehmen. Die früher geltende Vorschrift des Art. 462 des türkischen Strafgesetzbuches (tStGB), die eine Strafmilderung (auf bis zu 1/8 der Strafe) für Verbrechen vorsah, die zum Schutz der Familienehre ("töre") begangen wurden, ist mit Art. 19a des Gesetzes Nr. 4928 im Juni 2003 abgeschafft worden. Art. 82 des neuen, ab 1. Juni 2005 geltenden tStGB sanktioniert ausdrücklich eine vorsätzliche Tötung aus Gründen der "Ehre" ("töre saiki") mit erschwerter lebenslanger Haft. Seit dem Jahr 2004 wurden mehrfach sog. "Ehrenmorde" ("töre infazi") mit lebenslangen Haftstrafen geahndet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. Juli 2006 (Stand: Juni 2006), S. 30 f.; Thalheimer, "Ehrenmorde" in der Türkei, in: Der Einzelentscheider-Brief 6/05, S. 4 f.; taz vom 3. Juli 2004; Majid Sattar in FAZ vom 8. August 2006; Gerd Höhler in FR vom 15. August 2006).

Seit der Verschärfung der einschlägigen strafrechtlichen Normen ist auch ein Rückgang der - ohnehin in erster Linie Frauen aus bildungsfernen Schichten im Südosten der Türkei betreffenden - "Ehrenmorde" zu verzeichnen. Soweit in aktuellen Berichten eine Verlagerung der Problematik beklagt wird, weil "Ehrenmorde" zwar zurückgingen, immer mehr - zumeist junge - Frauen aber von ihrer Familie regelrecht in den Selbstmord getrieben würden (vgl. Rainer Hermann in FR vom 18. Mai 2006; Gerd Höhler in FR vom 15. August 2006; Majid Sattar in FAZ vom 8. August 2006), stellt sich diese Problematik im Falle der Klägerin zu 1. nicht, weil sie - insofern anders als die Mädchen und jungen Frauen in den "klassischen" Ehrenmordfällen (Ehebruch, uneheliche Schwangerschaft oder uneheliches Kind, Verweigerung einer "Zwangsheirat", Prostitution u.ä.) - in den Familienverbund, von dem in Gestalt des das "Todesurteil" verkündenden "Familienrates" die Gefahr ausgeht, überhaupt nicht (mehr) eingebunden ist.

Dafür, dass der in der Türkei demnach verfügbare Schutz nicht effektiv gewesen oder aber der Klägerin zu 1. eine Beantragung nationalen Schutzes unzumutbar gewesen wäre, ist weder etwas substanziiert vorgetragen, noch ergibt sich dies aus sonstigen Umständen. Insgesamt kann die Kammer daher aus den genannten Gründen nicht davon ausgehen, dass staatlicher Schutz in der Türkei erwiesenermaßen nicht zu erlangen (gewesen) ist. Damit können sich die Kläger aber im vorliegenden Zusammenhang - aus Gründen der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes - nicht mit Erfolg auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 4 lit. c) AufenthG berufen.

Schließlich können die Kläger sich auch nicht mit Erfolg auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen.

Denn es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass den Klägern bei einer Rückkehr in die Türkei eine konkrete und erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Hinsichtlich der geltend gemachten Bedrohung durch den früheren Ehemann bzw. Vater steht der Annahme einer solchen konkreten und erheblichen Gefahr bereits entgegen, dass der türkische Staat - wie zuvor dargelegt - nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln grundsätzlich willens und in der Lage ist, den Klägern in der Türkei effektiven Schutz im Falle etwaiger Bedrohungen und/oder Gewaltanwendungen zu gewähren, wenn sie diesen Schutz bei den staatlichen Institutionen einfordern.

Soweit sich die Kläger zur Begründung ihres Abschiebungsschutzbegehrens auf das Vorhandensein psychischer Erkrankungen berufen, folgt auch daraus im Ergebnis nicht die Zuerkennung von Abschiebungsschutz. Die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen auch insoweit nicht vor.

In der Türkei ist die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung durch das öffentliche Gesundheitssystem und den sich ausweitenden Sektor der Privatgesundheitseinrichtungen - wenn auch nicht auf hohem Niveau - grundsätzlich gewährleistet (vgl. zur medizinischen Grundversorgung: OVG NRW, Urteile vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, EA S. 109 ff., und vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A -, EA S. 19 ff.; Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 27. Juli 2006, S. 19. Mai 2004, S. 46 ff., vom 20. März 2002, S. 46 f., und vom 9. Oktober 2002, Seite 49 f.).

Insbesondere garantiert das dortige Gesundheitswesen psychisch kranken Menschen den Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beratungsstellen. Die Betreuung im medizinischen Bereich ist insoweit in den Groß- und Provinzstädten der Türkei sichergestellt. Allerdings weist die an sich gewährleistete medizinische Versorgung gravierende Lücken nach Art und Umfang auf: Insbesondere ist die persönliche, sozialpädagogische sowie psychosoziale Betreuung und/oder Rehabilitation psychisch Kranker nicht überall im erforderlichen Umfang sichergestellt. Die Situation psychisch Kranker in der Türkei ist gekennzeichnet durch eine Dominanz krankenhausorientierter Betreuung bei gleichzeitigem Fehlen differenzierter ambulanter (Tageskliniken und/oder -stätten) und komplementärer Versorgungsangebote (z. B. Beratungsstellen, Kontaktbüros, betreutes Wohnen etc.). Fünf psychiatrische Kliniken des türkischen Gesundheitsministeriums und drei Einrichtungen der Sozialversicherungsanstalt SSK verfügen - unter Einbeziehung sychiatrischer Stationen in allgemeinen Krankenhäusern aller öffentlichen türkischer Institutionen - über lediglich ca. 10.000 Betten für psychisch Kranke. Dies führt dazu, dass die Verweildauer der Patienten in der Regel auf drei Monate beschränkt ist. Dauereinrichtungen für psychisch kranke Erwachsene gibt es nur in der Form so genannter Depotkrankenhäuser. Allerdings ist die Anzahl und Kapazität derartiger Einrichtungen sehr gering. Die überwiegende Mehrheit derartiger Kranker wird von der eigenen Familie betreut (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 19. Mai 2004 und vom 9. Oktober 2002, jeweils: Anlage zur medizinischen Versorgung psychisch kranker Menschen in der Türkei; sowie OVG NRW, Urteil vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A -, a.a.O.).

Indes werden die Defizite des türkischen Gesundheitssystems im Fall der Kläger voraussichtlich nicht zum Tragen kommen. Es kann nämlich als unwahrscheinlich angesehen werden, dass die Kläger nach einer Rückkehr in die Türkei einer dauerhaften stationären Unterbringung bedürfen. Vielmehr kann mangels gegenteiliger Anhaltspunkte davon ausgegangen werden, dass für die Kläger - wie wohl auch schon in Deutschland - ambulante bzw. komplementäre Versorgungsangebote ausreichend sein werden.