VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 08.06.2006 - 9 K 1891/06.A - asyl.net: M8951
https://www.asyl.net/rsdb/M8951
Leitsatz:

Nichtstaatliche Verfolgung setzt Übergriffe voraus, die nach Art und Häufigkeit asylerheblichen Übergriffen von staatlichen oder quasistaatlichen Stellen entsprechen; die Annahme einer nichtstaatlichen Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG steht nicht im Widerspruch zur Ablehnung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, Sikhs, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, religiös motivierte Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Verfolgungsbegriff
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Nichtstaatliche Verfolgung setzt Übergriffe voraus, die nach Art und Häufigkeit asylerheblichen Übergriffen von staatlichen oder quasistaatlichen Stellen entsprechen; die Annahme einer nichtstaatlichen Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG steht nicht im Widerspruch zur Ablehnung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat (...) einen Anspruch auf die Feststellung, dass für ihn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Ihm droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zumindest Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG.

Dabei genügt für die Annahme einer Verfolgung nicht, dass der Schutzsuchende sich irgendeiner Form von Übergriffen von Privaten gegenübersieht. Vielmehr ist zu fordern, dass die erwarteten Übergriffe nach ihrer Qualität und Häufigkeit asylerheblichen Übergriffen von staatlichen oder quasistaatlichen Stellen entsprechen. Der Schutzsuchende muss in diesem Sinne aus einer vorhandenen, übergreifenden Friedensordnung, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen relativiert, sodass diese unterhalb der Stufe der Gewaltsamkeit verbleiben und die Existenzmöglichkeit des Einzelnen nicht in Frage stellen, herausgehoben werden (vgl. zur politischen Verfolgung im Sinne des Asylverfassungsrechts: BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260, 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 (1166 ff.); BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315 (333 ff.); BVerfG, Beschluss vom 02. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 -, BVerfGE 54, 341 (356 ff.)).

Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist. Die Annahme einer derartigen Gruppenverfolgung setzt allerdings voraus, dass Gruppenmitglieder Rechtsgutbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst bald Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (vgl. zum Begriff der Gruppenverfolgung: BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 und 515, 1827/89 -, BVerfGE 83, 217 (231 f.); Marx, AsylVfG, Kommentar, 6. Auflage, München 2005, § 1 Rn. 52 ff.).

So liegt der Fall hier.

Zwar sind Häufigkeit und Intensität von Übergriffen gegenüber Hindus, die anders als andere Volksgruppen in der afghanischen Verfassung keine Erwähnung gefunden haben (vgl. Hutter, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Existenzmöglichkeiten für Hindus und Sikhs in der Islamischen Republik Afghanistan?, Stellungnahme vom 25. Januar 2006, S. 4), nicht in größerem Ausmaß feststellbar. Dies ist jedoch im Wesentlichen auf die geringe Anzahl der in Afghanistan lebenden Hindus zurückzuführen. So schwanken die Zahlen der in Afghanistan lebenden Hindus von 1.500 bis 5.000 (vgl. Hutter, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Existenzmöglichkeiten für Hindus und Sikhs in der Islamischen Republik Afghanistan?, Stellungnahme vom 25. Januar 2006, S. 1; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 28; Merzadah, Zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, Bericht vom Januar 2006, S. 1; Auswärtiges Amt, Bericht vom 29. November 2005 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand: November 2005), S. 22; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report vom 08. November 2005).

Bekannt geworden ist zumindest, dass Hindus in der Regel keine Möglichkeit haben, ihr Grundeigentum zurückzuerhalten (vgl. Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 29 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht vom 29. November 2005 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand: November 2005), S. 23).

Sie leben daher so gut wie ausschließlich unter extrem schwierigen Bedingungen in den Tempelbezirken ihrer Gemeinden (vgl. Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 29 und 32 f.; Merzadah, Zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, Bericht vom Januar 2006, S. 5 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht vom 29. November 2005 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand: November 2005), S. 23).

Unter Verstoß gegen religiöse Bräuche kam es auch zu Verbrennungen innerhalb der Tempelanlage, weil der Hindu- und Sikh-Gemeinde in Kabul die Verwendung der traditionellen Verbrennungsplätze untersagt wurde. Erst auf Druck des Ministeriums für Wallfahrt und Religiöse Angelegenheiten stellte die Kabuler Stadtverwaltung eine neue Verbrennungsstätte zur Verfügung, die zumindest im Jahr 2005 noch in Gebrauch war. Verbrennungen in Tempeln finden gleichwohl immer noch oder wieder statt, weil muslimische Anwohner gegen die Nutzung offizieller Verbrennungsstätten von Hindus protestieren (vgl. Hutter, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Existenzmöglichkeiten für Hindus und Sikhs in der Islamischen Republik Afghanistan?, Stellungnahme vom 25. Januar 2006, S. 3; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 35 und 37; Merzadah, Zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, Bericht vom Januar 2006, S. 9; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report vom 08. November 2005).

Überdies ist immer wieder von Fällen berichtet worden, dass Hindu-Schüler nicht die staatlich anerkannte Schule besucht haben, weil dies die einzige Möglichkeit war, vor Diskriminierungen und Belästigungen durch Lehrer und Schüler - vor der sie der Staat nicht schützte - sicher zu sein. Auch soll es Versuche gegeben haben, Hindu-Schüler zum Islam zu bekehren. Diesen bleibt oft nur der Besuch der eigenen Hindu-Schule, die nicht staatlich anerkannt ist und in der sie in ihrer Sprache und Religion unterrichtet werden (vgl. Hutter, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Existenzmöglichkeiten für Hindus und Sikhs in der Islamischen Republik Afghanistan?, Stellungnahme vom 25. Januar 2006, S. 3; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 38; Merzadah, Zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, Bericht vom Januar 2006, S. 8 und 10; U.S. Department of State, International Religious Freedom Report vom 08. November 2005).

Weiter kommt es auf der Straße zu tätlichen Angriffen auf Hindus und zu Beleidigungen. So sind nach den Angaben Daneschs zwei ihn begleitende Hindus auf dem Weg zum Tempel tätlich angegriffen, beschimpft und als Gottlose bezeichnet worden. Dem entspricht es, wenn sich Hindu-Kinder in Kabul nicht trauen, das Gelände ihrer Tempelanlagen zu verlassen, aus Angst von muslimischen Kindern drangsaliert und geschlagen zu werden (vgl. Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 31 und 38; Merzadah, Zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, Bericht vom Januar 2006, S. 7).

Es kommt weiter vor, dass junge Mädchen aus Hindu-Familien - unter sechzehn Jahren - von islamischen Gerichten zum Islam "bekehrt" werden und anschließend, wahrscheinlich zwangsverheiratet, verschwinden, ohne dass der Staat hiervor schützt (vgl. Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 39 f.; Merzadah, Zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, Bericht vom Januar 2006, S. 1, 8 und 10 f.).

Die aufgezeigten Fälle gesellschaftlicher Diskriminierung werden nicht dadurch relativiert, dass es der Hindu-Gemeinde möglich war unter staatlicher Beachtung größere religiöse Feste zu feiern (vgl. Afghan Hindu and Sikh in News vom 04. Januar 2006).

Soweit ersichtlich fanden die Feiern, insbesondere auch das neuntägige Hindu-Fest Navrata im Oktober 2005 (vgl. dazu: Auswärtiges Amt, Bericht vom 29. November 2005 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand: November 2005), S. 23), in den Hindu-Tempeln und somit abseits der muslimischen Bevölkerung statt.

Dass die Anliegen von Hindus und Sikhs durch einen ihrer Vertreter in der Loya Jirga zur Sprache kommen konnten (vgl. Hutter, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Existenzmöglichkeiten für Hindus und Sikhs in der Islamischen Republik Afghanistan?, Stellungnahme vom 25. Januar 2006, S. 4), Herr Gangaram als Vertreter der Hindus von Präsident Karsai ohne Geschäftsbereich in den Senat berufen wurde (vgl. Merzadah, Zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan, Bericht vom Januar 2006, S. 11), und Hindus - wie auch der Streit um die Nutzung von Verbrennungsstätten und die Berufung eines die Interessen der Hindus vertretenden Senators zeigt - durchaus bei staatlichen Stellen Gehör finden, spricht gegen eine staatliche, nicht aber gegen eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure.

Eine Verfolgung durch nichtsstaatliche Akteure wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass illegale Landnahmen, einhergehend mit massiven Einschüchterungen, ein nicht spezifisch gegen Hindus gerichtetes Phänomen darstellen, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen betreffen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht vom 29. November 2005 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand: November 2005), S. 23).

Verbale und körperliche Übergriffe durch muslimische Afghanen in der Öffentlichkeit treffen nämlich in besonderer Weise Hindus, die zumindest in den Augen fundamentalistischer Muslime als "Gottlose" und "Götzendiener" (vgl. Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 23. Januar 2006, S. 28) angesehen werden und allgemein Bedrohungen, Einschüchterungen sowie Schmähungen und körperliche Misshandlungen in der Öffentlichkeit beklagen (vgl. Home Office, Operational Guidance Note, Afghanistan, Mitteilung vom 04. Januar 2006, Nr. 3.11.4 (S. 13); Home Office, United Kingdom, Country Report - October 2005, Nr. 6.123 (S. 106)).

Dass der Staat oder Parteien oder Organisationen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. b) AufenthG, einschließlich internationaler Organisationen, vor der geschilderten gesellschaftlichen Diskriminierung genügenden Verfolgungsschutz bieten, ist nicht ersichtlich. Zwar ist der Staat unter anderem im Rahmen der Streitigkeit um die Nutzung einer Verbrennungsstätte zu Gunsten der Hindus tätig geworden. In den Fällen alltäglicher Diskriminierung hat er jedoch - soweit ersichtlich - nichts zum Schutz der Betroffenen unternommen. So hat er nicht einmal Maßnahmen gegen die erhebliche Diskriminierung von hinduistischen Schülern in muslimischen Schulen ergriffen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report vom 08. November 2005).

Auch wenn Hindus sich aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen entschieden haben sollten, Übergriffe nicht vor die Gerichte zu bringen (vgl. U.S. Department of State, International Religious Freedom Report vom 08. November 2005), ist angesichts des Fehlens funktionierender Verwaltungsstrukturen und eines auch nur ansatzweise funktionierenden, zudem stark von Islamisten geprägten Justizsystems (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht vom 29. November 2005 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand: November 2005), S. 10; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Länderanalyse Afghanistan, Update vom 03. Februar 2006, S. 4 f.), eine staatliche Schutzgewährung erwiesener Maßen nicht möglich.

Die Annahme einer Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan (so schon: VG Köln, Urteil vom 10. Januar 2006 - 14 K 4340/03.A, S. 32) steht schließlich nicht im Widerspruch zur Verneinung eines Abschiebeverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG (Vgl. ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG verneinend: OVG NRW, Urteil vom 05. April 2006 - 20 A 5161/04.A -, Juris).

Gerade bei den Kriterien der Art und Konkretheit einer Gefahr bestehen nachhaltige Unterscheide zwischen Absatz 1 und Absatz 7 - in verfassungskonformer Anwendung - des § 60 AufenthG (vgl. OVG NRW, Urteil vom 05. April 2006 - 20 A 5161/04.A -, Juris).