VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 09.10.2006 - 4 K 2900/05.A - asyl.net: M8952
https://www.asyl.net/rsdb/M8952
Leitsatz:

In der Türkei besteht keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung trotz Reformen, da diese nicht unumkehrbar sind und da nach wie vor Folter – insbesondere gegen Kurden – praktiziert wird; die Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO ist auch im Asylverfahren möglich.

 

Schlagwörter: Türkei, Untätigkeitsklage, Verfahrensrecht, Mitwirkungspflichten, Kurden, Strafurteil, Straftat, Veröffentlichung, Mahir Cayan, THKP-C, THKC, Dev Sol, Politmalus, Folter, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, ÖDP, exilpolitische Betätigung, Terrorismusvorbehalt, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, schweres nichtpolitisches Verbrechen, Auslandsstraftaten, Raub, Wiederholungsgefahr, Situation bei Rückkehr
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; VwGO § 75; AsylVfG § 15
Auszüge:

In der Türkei besteht keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung trotz Reformen, da diese nicht unumkehrbar sind und da nach wie vor Folter – insbesondere gegen Kurden – praktiziert wird; die Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO ist auch im Asylverfahren möglich.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat Erfolg.

I. Sie ist zulässig. Insbesondere durfte sie gemäß § 75 VwGO als Untätigkeitsklage erhoben werden. Diese Vorschrift ist auch im Asylklageverfahren anwendbar. Durch die hier geltenden besonderen Regelungen (§§ 74 ff. AsylVfG) ist dies nicht ausgeschlossen. § 75 VwGO gilt sogar sinngemäß auch für Klagen außerhalb der VwGO (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 75 Rdnr. 2).

Auch der in § 75 Satz 1 VwGO enthaltene Verweis auf § 68 VwGO hindert die Anwendung der Vorschrift nicht. Dieser Verweis zwingt nicht zu der Schlußfolgerung, daß § 75 VwGO nur dann greift, wenn ein Vorverfahren vorgeschrieben ist (so aber VG Oldenburg (Oldenburg), Beschluß vom 22. Mai 2003 - 12 A 4013/02 -).

Dem steht schon entgegen, daß § 75 Satz 1 VwGO auch in den Fällen die Untätigkeitsklage eröffnet, in denen nicht erst über den Widerspruch, sondern schon "über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts" nicht entschieden wurde. Zu diesen Fällen gehört auch das Ausbleiben einer Entscheidung des Bundesamts über einen Asylantrag. Im Ergebnis ebenso: OVG NRW, Beschluß vom 21. Oktober 1985 - 19 B 20781/85 -; VGH Mannheim, Beschluß vom 30. Mai 2000 - A 6 S 281/00 -, AuAS 000, 201; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 20. März 1997 - A 2 K 13182/95 -; VG Augsburg, Urteil vom 5. Februar 2001 - Au 7 K 00.30495 -; VG Ansbach, Beschluß vom 22. Februar 2002 - AN 4 K 01.32222 -.

Die Voraussetzungen des § 75 VwGO lagen hier vor. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung - 30. Juni 2005 - hatte das Bundesamt über den Asylantrag des Klägers vom 21. Juli 2004 nicht entschieden, obwohl seit der Antragstellung nahezu ein Jahr vergangen war. Damit war die Frist nach § 75 Satz 2 VwGO deutlich überschritten. Ein zureichender Grund dafür, daß über den Asylantrag noch nicht entschieden war, bestand nicht. Insbesondere war das Bundesamt nicht dadurch an der Entscheidung gehindert, daß der Kläger bestimmte Unterlagen entgegen der Aufforderung in der Anhörung noch nicht vorgelegt hatte. Die Nichtvorlage der Unterlagen kann unter Umständen als Verletzung der nach § 15 AsylVfG bestehenden Mitwirkungspflichten zu Lasten des Asylbewerbers gewertet werden, ist aber kein Grund für das Bundesamt, fast ein Jahr lang mit der Entscheidung zuzuwarten.

Nach Erlaß des Bescheides vom 1. Februar 2006 ist die Untätigkeitsklage ohne weiteres in eine gewöhnliche Asylklage übergegangen, ohne daß sich an der Zulässigkeit etwas geändert hätte.

II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 1. Februar 2006 verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter und Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), Ziff. 1 und 2 des Bescheides.

2. Bei dem Kläger ist der herabgestufte Prognosemaßstab anzuwenden, denn er hat sein Heimatland Türkei am 5. Juni 2004 auf der Flucht vor eingetretener und unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen und ist somit als politisch Verfolgter aus der Türkei ausgereist.

2.2. Der Kläger war in der Türkei von politischer Verfolgung betroffen. Dies ergibt sich schon aus der Verurteilung wegen der Neuveröffentlichung der Schriften des Mahir Cayan.

Eine Verurteilung wegen der Neuherausgabe von Schriften des Mahir Cayan muß allerdings nicht notwendig eine politische Verfolgung darstellen. Cayan als Mitbegründer der Volksbefreiungsfront der Türkei (THKP-C oder THKC) hat mit seiner Organisation den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat unterstützt. Dabei wurden auch "militärische Aktionen" durchgeführt. Dies geht außer aus der Auskunftslage (vgl. insoweit Bundesamt, Erkenntnisse vom 19. Mai 1998 - TUR00023506) auch aus dem Buch mit den Schriften Cayans hervor, dessen Herausgabe dem Kläger zur Last gelegt worden ist.

Gleichwohl ist in dem konkreten Fall die Verurteilung des Klägers als politische Verfolgung anzusehen. Dies liegt daran, daß die türkischen Stellen den Kläger als Vertreter (ehemals) der Dev Yol und (nunmehr) der DHKP-C angeklagt und verurteilt haben und dafür die schon erwähnten Auszüge aus den Schriften des Mahir Cayan herangezogen haben, die zu diesen beiden Organisationen in Wahrheit keinen Bezug aufweisen.

Aus allem ergibt sich, daß der türkische Staat den Kläger gerade in seinem aktuellen Engagement für die DHKP-C treffen wollte und nicht davor zurückgeschreckt ist, zur Untermauerung des Terrorismusvorwurfs gegen diese Organisation ihr Zitate in die Schuhe zu schieben, die aus einer Zeit stammen, als diese Organisation noch gar nicht bestand. Ein solches Vorgehen gegen einen mißliebigen politischen Gegner ist unzulässig. Führt es zur Verhängung einer Freiheitsstrafe, so ist nicht nur die Meinungsäußerungsfreiheit, sondern auch die persönliche Freiheit des betroffenen Angeklagten verletzt. Jedenfalls damit ist eine asylerhebliche Maßnahme gegeben.

2.4. Die nach allem bestehende Vorverfolgung des Klägers hielt noch an, als er im Juni 2004 aus der Türkei ausreiste. Die Gefängnisstrafe, zu der er verurteilt worden ist, war noch nicht verbüßt.

3. Die bei Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabes maßgebenden Voraussetzungen für die Asylanerkennung und die Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG sind erfüllt. Der Kläger ist vor erneuter Verfolgung in der Türkei nicht hinreichend sicher.

3.1. Anzuerkennen ist allerdings, daß sich die Lage in der Türkei in den letzten Jahren erheblich gewandelt hat. Die AKP-Regierung hat ihr Ziel, Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union aufzunehmen, beharrlich verfolgt und schlußendlich auch erreicht. Im Zuge dieses Bestrebens hat sie sich dazu verstanden, Menschenrechtsverletzungen offen zu diskutieren und zu beheben. Auch der türkischen Strafjustiz ist insgesamt eine positive und hoffnungsvolle Entwicklung zu bescheinigen. Menschenrechtsorganisationen können in der Türkei inzwischen weitgehend ungehindert arbeiten. Mit mehreren - nach üblicher Zählung acht - sogenannten Reformpaketen sind rechtsstaatliche Verbesserungen erreicht und Rechte des kurdischen Bevölkerungsteils anerkannt worden (vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 11. November 2005 (Stand: Anfang November 2005), S. 7 f.).

3.2. Diese Veränderungen führen allerdings nicht dazu, daß in den Fällen vorverfolgter Asylbewerber aus der Türkei nunmehr generell eine hinreichende Verfolgungssicherheit bestünde. Zum einen ist die Entwicklung, die die Türkei zuletzt genommen hat, nicht unumkehrbar. Die Überzeugung von der Notwendigkeit, die Menschenrechte auch und gerade in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu achten, ist noch nicht dauerhaft im Bewußtsein der Menschen verwurzelt. Die Menschenrechtsorganisationen gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Die Menschenrechtspraxis bleibt nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 56).

Zum anderen hat die Entwicklung - auch wenn unterstellt wird, daß die insoweit möglichen Rückschläge ausbleiben - aber auch noch nicht einen Stand erreicht, der eine erneute Verfolgung jedenfalls vorverfolgter Kurden ausschlösse. Noch immer wird in der Türkei Folter praktiziert; insbesondere Kurden werden weiterhin Opfer von Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität. Es ist der Regierung bisher nicht gelungen, Folter und Mißhandlung vollständig zu unterbinden (vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27. Juli 2006 (Stand: Juni 2006), S. 35).

Die Bewertung des OVG NRW, daß verfolgt ausgereiste Kurden - wie der Kläger - vor erneuter Verfolgung noch immer nicht hinreichend sicher (vgl. OVG NRW, a.a.O., S. 21), hat unter diesen Umständen nach Einschätzung des Einzelrichters weiterhin Bestand.

3.3. Im Falle des Klägers kommt hinzu, daß dieser sich bei einer Rückkehr in die Türkei nicht unauffällig verhalten und politisch zurückhalten würde.

Das politische Engagement des Klägers kann bei der Verfolgungsprognose nicht außer acht gelassen werden. Dem Asylbewerber darf nicht vorgehalten werden, daß er ohne seine politische Betätigung keiner staatlichen Verfolgung ausgesetzt wäre. Dies liefe dem Zweck des Asylrechts zuwider, das vor politischer Verfolgung schützen und damit politische Betätigung gerade ermöglichen will (vgl. schon Kimminich, in: Bonner Komm. z. GG, Art. 16 (Drittbearb. 1984) Rdnr. 258).

Aufgrund seines Eintretens für die ÖDP müßte der vorverfolgt ausgereiste Kläger in besonderem Maße mit asylrelevanten Maßnahmen rechnen. Die in den letzten Jahren in der Türkei erreichten Fortschritte betreffen zwar auch die Meinungsfreiheit. Gleichwohl bestehen aber insoweit noch immer Gesetzesvorbehalte. Eingeschränkt ist die Meinungsfreiheit insbesondere dort, wo staatliche Stellen die "Einheit des Staates" gefährdet sehen (vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 11. November 2005 (Stand: Anfang November 2005), S. 11).

Dies ist der internationalen Öffentlichkeit etwa bei der Anklage gegen den bekannten Schriftsteller Orhan Pamuk vor Augen geführt worden (vgl. zu diesen - allgemeinkundigen - Vorgängen F.A.Z. Nr. 293 vom 16. Dezember 2005, S. 5 "EU warnt Türkei" und Nr. 294 vom 17. Dezember 2005, S. 33 "Pamuks Richter").

Die Unterstützung der ÖDP, die als legale Nachfolgeorganisation der Dev Yol von den türkischen staatlichen Stellen jedenfalls mit Mißtrauen gesehen wird, würde den Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei noch zusätzlich zu den für ihn als vorverfolgt Ausgereistem bestehenden Gefahren in die Gefahr einer erneuten politischen Verfolgung bringen.

5. Die Asylanerkennung scheitert auch nicht an dem sogenannten Terrorismusvorbehalt, der den Schutzbereich des Asylgrundrechts begrenzt. Der Terrorismusvorbehalt setzt voraus, daß der Asylsuchende von deutschem Boden aus die Umsetzung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln betreibt. Dafür gibt es beim Kläger keine Anhaltspunkte. Die ÖDP, deren Mitglied er ist, ist eine legale Organisation.

6. Ebensowenig ist der Anspruch des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen es § 60 Abs. 1 AufenthG nach § 60 Abs. 8 AufenthG, der mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes an die Stelle des § 51 Abs. 3 AuslG getreten ist, ausgeschlossen.

Da für die übrigen dem Kläger zur Last gelegten Straftaten keine genügenden Anhaltspunkte bestehen (oben 2.3.), würde dies voraussetzen, daß der von ihm eingeräumte im Jahre 1988 begangene Raubüberfall hierunter fällt, weil er etwa als schweres nichtpolitisches Verbrechen anzusehen ist. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, besteht eine für § 60 Abs. 8 AufenthG beachtliche Wiederholungsgefahr nicht. Die Tat aus dem Jahre 1988 liegt 18 Jahre zurück. Nach seiner Entlassung aus der 8jährigen Haft im Jahre 2002 hat sich der Kläger weder (nachweislich) Gewaltdelikte zuschulden kommen lassen noch werden ihm solche vorgeworfen. Seine Beteuerungen, für die kurdische Sache nicht mehr mit Gewalt, sondern nur noch durch Worte einzutreten, sind zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft (oben 3.3.). Anhaltspunkte dafür, daß er wieder rückfällig werden könnte im Sinne einer erneuten Hinwendung zu gewaltsamen Aktionen, bestehen nicht.