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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 31.05.2006 - 2 A 112/06.A - asyl.net: M8966
https://www.asyl.net/rsdb/M8966
Leitsatz:

Keine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in der Russischen Föderation.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Sicherheitslage, Filtrationslager, interne Fluchtalternative, Versorgungslage, Existenzminimum, medizinische Versorgung, Registrierung, Inguschetien (A), Dagestan (A), Moskau, St. Petersburg, Nischni Nowgorod (A), Kaliningrad, Stawropol, Krasnodar, Kabardino-Balkarien (A), Karatschajewo-Tscherkessien (A), Nordossetien (A), Freizügigkeit, Wohnraum, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

Keine inländische Fluchtalternative für Tschetschenen in der Russischen Föderation.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Berufung ist begründet.

Rechtsgrundlage für die Feststellung auf Abschiebungsschutz ist nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1950) § 60 Abs. 1 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

2. a) Die Kläger waren in diesem Sinne bei ihrer Ausreise im März 2001 in ihrem Herkunftsgebiet Tschetschenien einer örtlich begrenzten Gruppenverfolgung ausgesetzt.

Der Senat hat in einem Parallelverfahren in seinem aufgrund mündlicher Verhandlung vom 09.03.2005 ergangenen Urteil vom 23.03.2005 (Az. 2 A 116/03.A) die Kriegsführung der russischen Seite im zweiten Tschetschenienkrieg in ihrer Rücksichtslosigkeit gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung als Gruppenverfolgung bewertet und insoweit folgendes ausgeführt: ...

Die vorstehenden Feststellungen aus dem Urteil des Senats vom 23.03.2003 und die in dem Urteil gezogenen Schlussfolgerungen, die nach Auswertung der gleichen Erkenntnisquellen getroffen sind, die auch in das vorliegende Verfahren eingeführt worden sind, wiederholt der Senat auch für das vorliegende Verfahren (ebenso OVG Schleswig-Holstein, U. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 - sowie Hessischer VGH, U. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -, anderer Auffassung Thüringer OVG, U. v. 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -).

b) Der Senat läßt offen, ob die aus Grosny stammenden und von der im Zeitpunkt ihrer Ausreise bestehenden örtlichen Gruppenverfolgung in Tschetschenien betroffenen Kläger eine inländische Fluchtalternative in der übrigen Russischen Föderation besaßen.

3. Jedenfalls können die Kläger sich für den hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) auf ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen, weil sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsgebiet in Tschetschenien von der dort seit ihrer Ausreise und nach wie vor herrschenden örtlichen Gruppenverfolgung betroffen wären und ihnen in der übrigen Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nunmehr existenzielle Gefährdungen drohten, die so am Herkunftsort nicht bestünden.

a) Den Klägern ist eine Rückkehr in ihr Herkunftsgebiet Tschetschenien aufgrund der dort herrschenden Verhältnisse nicht zumutbar (von der Unzumutbarkeit einer Aufenthaltsnahme in Tschetschenien gehen auch aus: OVG Schleswig, U. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 -. BayVGH, U. v. 31.01.2005 - 11 B 02.31597 -, Hessischer VGH, U. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -, offengelassen wegen der Annahme einer inländischen Fluchtalternative: OVG Schleswig, U. v. 03.11.2005 - 1 LB 259/01 -, U. d. OVG des Saarlandes vom 23.06.2005 - 2 R 11/03 -, U. d. OVG NRW vom 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -, keine regionale Gruppenverfolgung: Thüringer OVG, U. v. 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -).

Denn die Sicherheitslage in Tschetschenien hat sich seit der Ausreise der Kläger nicht spürbar verbessert. Der Senat hat dazu in seinem bereits angeführten Urteil vom 23.03.2005 folgende Feststellungen getroffen: ...

Die dem Senat vorliegenden aktuellen Quellen ergeben keine Verbesserungen. Sie deuten vielmehr auf eine unverändert besorgniserregende Sicherheitslage in Tschetschenien hin.

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen bleibt weit hinter deren Ausmaß zurück, so dass nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen ein "Klima der Straflosigkeit" entstanden sei. Dies kritisieren auch der Berichterstatter des Europarats, Rudolf Binding (Bericht zu Tschetschenien vom 22.09.2004 und zur Russischen Föderation allgemein vom 03.06.2005) und der Menschenrechtskommissar des Europarats Gil-Robles in seinem Bericht vom April 2005 (AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 15).

Eine grundlegende Änderung der in Tschetschenien herrschenden Situation einer Gruppenverfolgung der dort lebenden tschetschenischen Zivilbevölkerung kann der Senat der aktuellen Auskunftslage nach allem nicht entnehmen. In Übereinstimmung mit dem Hessischen VHG in seinem bereits angeführten Urteil, a. a. O., beurteilt er die Sicherheitslage in Tschetschenien vielmehr als unverändert instabil mit der Folge, dass die für eine Gruppenverfolgung zu fordernde Verfolgungsdichte auch heute anzunehmen ist. Der Einschätzung des Thüringer OVG in seinem Urteil vom 16.12.2004, a. a. O., wonach die Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung Einzelfälle geblieben seien, deren Häufigkeit seit dem Jahre 2003 zurückgegangen sei, kann nach Auswertung der aktuellen Lageberichte des Auswärtigen Amtes und bezogen auf den gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht gefolgt werden.

Der Senat teilt auch die Ansicht des Hessischen VGH in seinem Urteil vom 02.02.2006, a. a. O., dass der russische Staat nach der Auskunftslage (vgl. AA, Lagebericht vom 30.08.2005) nicht in der Lage ist, der tschetschenischen Zivilbevölkerung ausreichend Schutz vor Übergriffen durch seine eigenen Streitkräfte oder durch andere dort operierende Gruppen zu gewähren, so dass es auf eine exakte Differenzierung danach, von welcher Gruppierung überwiegend die Gefährdungen für die Zivilbevölkerung ausgehen - russische Sicherheitskräfte, Kadyrow-Anhänger, in Tschetschenien ansässige Rebellengruppen oder sonstige marodierende Banden - nicht ankommt, selbst wenn man dies aufgrund der Auskunftslage nicht unzweifelhaft feststellen könnte. Denn nach § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG wäre dies nicht erheblich.

4. Die Kläger können gegenwärtig auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative in übrigen Russischen Föderation verwiesen werden.

a) Allerdings bestehen für die Kläger außerhalb Tschetscheniens in der übrigen Russischen Föderation verfolgungssichere Gebiete. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 23.03.2005 - 2 A 116/03.A - entschieden, dass Tschetschenen nach Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges, als bereits mehr als 2/3 aller Tschetschenen in anderen russischen Regionen bzw. in GUS-Staaten lebten (AA, ad hoc-Bericht vom 15.02.2002), wobei mehr als die Hälfte aller russischen Tschetschenen in der Russischen Föderation sich im Jahre 2000 vor allem in Moskau oder im südlichen Russland befunden haben (AA, Auskunft vom 30.06.2000 an das VG Stuttgart), verfolgungssichere Gebiete in der übrigen Russischen Föderation zur Verfügung gestanden haben und weiterhin stehen.

Die seither bekanntgewordenen Erkenntnisse zur Sicherheitslage der ethnischen Tschetschenen in der übrigen Russischen Föderation stellen die bisherigen Bewertungen des Senats nicht in Frage. Einschränkungen sind allerdings hinsichtlich der Gebiete des Nordkaukasus angebracht. Insbesondere ist auch Inguschetien kein verfolgungssicheres Gebiet mehr.

In den übrigen Gebieten der Russischen Föderation herrscht nach wie vor eine stark anti-tschetschenische Stimmung.

Asylrelevante Angriffe gegen Tschetschenen in einer Zahl, die gemessen an der oben angegebenen Zahl der in der russischen Diaspora lebenden tschetschenischen Volkszugehörigen eine hinreichende Verfolgungsdichte belegen, vermelden die genannten Erkenntnisquellen aber nicht, so dass es Tschetschenen und damit auch den Klägern unter Sicherheitsaspekten weiterhin zumutbar ist, sich in die Gebiete der Diaspora außerhalb der destabilen Gebiete des Nordkaukasus zu begeben und dort im Schutze und in Mitte Tausender ihrer Landsleute zu leben. Dies gilt unabhängig von einer Registrierung und damit Legalisierung des Aufenthalts am Ort der inländischen Fluchtalternative. Mit einer Registrierung ist die Sicherheitslage allerdings vergleichsweise besser (zur Registrierung im Einzelnen weiter unten), deren Fehlen schließt eine Verfolgungssicherheit aber auch nicht aus, wie das Beispiel der Region Moskau belegt, wo ca. 200.000 Tschetschenen leben, davon jedoch laut Volkszählung von 2002 lediglich 14.465 offiziell Registrierte (AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 8). Unter der sich verschärfenden Sicherheitslage wird die Verfolgungssicherheit von nicht registrierten Tschetschenen in Orten, in denen sich keine oder nur vereinzelt Tschetschenen aufhalten, insbesondere nach spektakulären terroristischen Vorfällen, jedoch nicht gegeben sein.

b) Die Kläger können indessen nicht auf die verfolgungssicheren Gebiete in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens verwiesen werden, weil sie dort nach den Verhältnissen bei Rückkehr in ihren Heimatstaat anderen existenziellen Gefährdungen ausgesetzt wären, die so am Herkunftsort nicht bestünden und denen sie aufgrund der individuellen Umstände ihres Falles nicht wirksam begegnen könnten.

Der Senat geht davon aus, dass existenzielle Gefährdungen für die Kläger dann nicht zu erwarten sind, wenn und nachdem sie in den hinreichend sicheren Gebieten außerhalb des Nordkaukasus einen legalen Aufenthalt begründen können.

Nach der Verfassung besteht für russische Staatsbürger in der Russischen Föderation Niederlassungsfreiheit (AA, Lagebericht vom 15.02.2006). Durch das Föderationsgesetz Nr. 52421 mit dem Titel "Gesetz der Russischen Föderation über die Freizügigkeit, die Wahl des Aufenthalts- und Wohnortes im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation" vom 25.06.1993 wurde ein Registrierungssystem eingeführt, bei dem die Bürger den örtlichen Dienststellen des Innenministeriums ihren Wohnort (sog. "dauerhafte Registrierung") oder falls davon abweichend ihren Aufenthaltsort (sog. "vorübergehende Registrierung") melden, im Gegensatz zu dem früher geltenden "Propiska"-System, das die Polizeibehörden ermächtigte, den Bürgern den Aufenthalt oder die Niederlassung an einem bestimmten Ort zu gestatten oder zu verwehren (UNHCR, Auskunft vom 29.10.2003 an den BayVGH; AA, Auskunft vom 12.11.2003 an den BayVGH). Die erfolgte Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ist Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem. Nur wer die Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (vgl. AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 20 und 27). Wer nicht registriert ist, hat Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, bei der Unterbringung seiner Kinder in Bildungseinrichtungen und läuft Gefahr, verhaftet oder mit einer Geldstrafe belegt zu werden (Memorial, Jahresbericht vom Dezember 2005, S. 38). Nach UNHCR (Auskunft vom 29.10.2003 an den BayVGH) ist die erfolgte Registrierung Voraussetzung für den Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, zu sozialer Unterstützung, medizinischer Versorgung und zu den Bildungseinrichtungen.

Obwohl das "Propiska"-System offiziell durch die föderalen Registrierungsvorschriften abgeschafft worden ist, wenden viele Regionalbehörden der Föderation restriktive örtliche Vorschriften und Verwaltungspraktiken an (UNHCR, Januar 2002, Nr. 19 u. 20). Restriktive Registrierungsvorschriften finden sich insbesondere in Moskau und St. Petersburg.

Eine restriktive Registrierungspraxis gegenüber Tschetschenen ist auch bekannt geworden aus Nischni/Nowgorod, Kaliningrad und den südlichen Republiken bzw. Regionen Strawropol, Krasnodar, Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien-Alanien (ai, Stellungnahme vom 16.04.2004 an den BayVGH und UNHCR, Januar 2002 Nr. 32, 33, 35, 37, 41) sowie aus östlichen und fernöstlichen Regionen (UNHCR, Januar 2002, Nr. 42).

Die Verweigerung der Registrierung eines zeitweiligen oder dauerhaften Aufenthalts insbesondere in den Gebieten der tschetschenischen Diaspora (westrussische Großstädte und südliches Russland, vgl. AA, ad hoc-Bericht vom 13.12.2004) vermag allerdings für sich genommen nicht schon die Annahme einer landesweiten Gruppenverfolgung der Tschetschenen zu begründen. Sie erfolgt nicht wegen der tschetschenischen Volkszugehörigkeit, sondern ist Folge der in der Russischen Föderation herrschenden schlechten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse.

Es kann wohl auch nicht festgestellt werden, dass die Registrierung landesweit einheitlich restriktiv angewendet wird (UNHCR, Januar 2002, Nr. 42 u. 47). Auch wurde sie von einigen Regionen wieder abgeschafft aufgrund der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und in manchen Gebieten ist eine Registrierung wegen der dort herrschenden harten Lebensbedingungen auch nicht nötig (ai, Stellungnahme vom 12.01.2001 an das VG Ansbach).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Erkenntnisse zur Gesetzeslage und zur tatsächlichen Verwaltungspraxis bei der Aufenthaltsregistrierung geht der Senat davon aus, dass tschetschenische Rückkehrer im Grundsatz in einem für sie sicheren Gebiet der tschetschenischen Diaspora außerhalb Tschetscheniens vornehmlich in Südrussland einen legalen Aufenthalt begründen können (so auch die einhellige obergerichtliche Rechtsprechung: Thüringer OVG, U. v. 16.12.2004 - 3 KO 100/04 -, BayVHG, U. v. 31.01.2005 - 11 B 02.31597 -, OVG des Saarlandes, U. v. 23.06.2005 - 2 R 11/03 -, OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -, Schleswig-Holsteinisches OVG, U. v. 03.11.2005 - 1 LB 259/01 - und Hessischer VGH, U. v. 02.02.2006 - 3 Ue 3021/03.A -).

Dies gilt auch für die Kläger, die Inhaber gültiger russischer Inlandspässe sind. Eine zeitweilige Rückreise nach Tschetschenien als dem Ort ihrer bisherigen Registrierung zum Umtausch der alten sowjetischen Inlandspässe in neue gültige Personaldokumente, die ihrerseits Voraussetzung für eine Registrierung außerhalb Tschetscheniens sind, wäre für die Kläger dazu nicht erforderlich (vgl. AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 25).

Auszuschließen ist eine Registrierung der Kläger allerdings für die russischen Großstädte Moskau oder St. Petersburg, wo der legale Zuzug stark erschwert ist durch Verwaltungsvorschriften (vgl. AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 26). Nach Moskau zurückgeführte Tschetschenen haben deshalb in der Regel nur dann eine Chance in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten sowie Finanzmittel zurückgreifen können (so AA, a. a. O., S. 27), was bei den Klägern nicht der Fall ist.

Die Annahme, dass es den Klägern praktisch unmöglich sein dürfte, in Moskau eine Registrierung zu erreichen, wird schließlich auch durch die mitgeteilten Zahlen gestützt: Nach Angaben der dortigen Staatsanwaltschaft leben im Großraum Moskau ca. 1,5 Millionen nicht Registrierte einschließlich Ausländer. Laut Volkszählung 2002 betrug die Zahl der offiziell registrierten Tschetschenen lediglich 14.464 Personen, wobei (heute) 200.000 Tschetschenen in der Region leben (vgl. AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 8 Mitte und Bundesamt, Russische Föderation, Tschetschenienkonflikt, GUS-Staaten, Erkenntnisse des Bundesamtes, Berichtzeitraum: Oktober 2004 - April 2005, S. 12).

Für die übrigen Gebiete der tschetschenischen Diaspora, im Wesentlichen Südrussland (Wolgaregion), wo ca. 50.000 Tschetschenen leben (AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 16 Mitte) ist eine Registrierung grundsätzlich leichter möglich, u. a. weil der grundsätzlich als Registrierungsvoraussetzung notwendige Wohnraum (als Eigentümer oder Mieter) dort finanziell erheblich günstiger ist (AA, a. a. O., S. 28). Zwar ist in Rechnung zu stellen, dass die Registrierung auch dort nicht problemlos zu erlangenist, nachdem das Auswärtige Amt mitteilt (a. a. O., S. 28), sie sei auch in anderen Landesteilen mitunter erst nach Interventionen von Nichtregierungsorganisationen, Duma-Abgeordneten oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten bzw. dem Bezahlen von Bestechungsgeldern möglich gewesen.

c) Allerdings werden die administrativen Widerstände und tatsächlichen Erschwernisse, die die Kläger bei der Durchsetzung ihres Rechts auf legalen Aufenthalt im Gebiet der inländischen Fluchtalternative zu überwinden haben, sie nach den Umständen ihres Einzelfalles in eine ausweglose Lage versetzen (vgl. auch Hessischer VGH, a. a. O., S. 29). Die Kläger haben bei Rückkehr in die Russische Föderation keinerlei Anknüpfungspunkte zu dem Gebiet der inländischen Fluchtalternative. Sie haben bisher niemals außerhalb Tschetscheniens in einem Gebiet der Russischen Föderation gelebt. Sie besitzen außerhalb Tschetscheniens keine Bekannten oder Verwandten oder sonstige Kontaktpersonen, auf deren Hilfe und Rat sie zurückgreifen könnten. Möglicherweise können sie sich auch schon vor ihrer Rückreise aus Deutschland bei den Beratungsstellen von Memorial oder der tschetschenischen Vertretung in Moskau, die es dort offensichtlich gibt (vgl. AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 10 bis 11) konkrete Orte der tschetschenischen Diaspora benennen lassen, an die sie sich begeben können und wo eine Registrierungsmöglichkeit für Tschetschenen erfahrungsgemäß eher gegeben ist.

Bei der Suche nach Wohnraum an den so ausfindig gemachten Orten könnten ihnen die Beratungsstellen von Memorial nicht behilflich sein (vgl. Offener Brief vom 16. Oktober 2005 Nr. 4). Nach Memorial (Offener Brief Nr. 3) ist es sehr schwierig, Vermieter zu finden, die überhaupt an Tschetschenen vermieten. Häufig drohten Milizionäre, die verpflichtet seien, regelmäßig Häuser zu besuchen, in den Tschetschenen wohnten, den Vermietern mit Unannehmlichkeiten. In der Folge scheuten sich die meisten Vermieter, ihren Mietern eine Registrierung zu unterschreiben. Letzteres sei dann anzutreffen, wenn die Vermieter ihre Wohnung nur noch an Menschen vermieten könnten, die aus dem Nordkaukasus kämen. Bei der gegenwärtig herrschenden Wohnungsnot handele es sich hier um Wohnungen, die entweder sehr schlecht seien, deren Vermieter Alkoholiker oder schwer krank seien und wo die Mieter gezwungen seien, mit den Vermietern zusammen zu leben. Die Hilfe von Memorial bei der Registrierung sei nur möglich, wenn die Vermieter dies wollten, was selten der Fall sei.

Aufgrund der dargestellten Gegebenheiten ist davon auszugehen, dass der als Registrierungsvoraussetzung notwendige Nachweis von Wohnraum sich für die Kläger sehr zeitaufwendig und langwierig gestalten und Orientierungen an verschiedenen Orten erfordern wird, was mit einem - kostenverursachenden - Herumreisen der mittellosen Kläger mit ihren drei kleinen Kindern an verschiedenen Orten verbunden wäre. Langwierig wäre auch das sich anschließende Registrierungsverfahren selbst. Memorial (Offener Brief Nr. 3) weist darauf hin, dass der Kampf um eine Registrierung Monate, wenn nicht Jahre, dauern könne und zeigt in seinem Bericht entsprechende Beispiele auf (S. 33 f. und Anlage 4 des Berichtes vom Dezember 2005, vgl. auch Memorial, 27.06.2005 an den BayVGH). Dass sich die Kläger gegen die restriktiven Registrierungspraktiken wider alle praktischen Erfahrungen ausreichend zeitnah zur Wehr setzen könnten, kann nicht angenommen werden, da sie weder einflussreiche Persönlichkeiten kennen noch über finanzielle Mittel zur "Beeinflussung" ihres Antrags bei den zuständigen Behörden verfügen, ihr Recht auf Registrierung vielmehr gegen die Vorbehalte der örtlichen Behörden ggf. im Wege eines Gerichtsverfahrens durchsetzen müssen. Damit wären die Kläger darauf angewiesen, während dieser Zeiten illegal zu leben ohne Zugang zum legalen Arbeitsmarkt, zur staatlichen Unterstützungsleistung und zur staatlichen Gesundheitsvorsorge.

Während der nicht prognostizierbaren Dauer ihres Lebens in der Illegalität wären die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit außer Stande, den existenziellen Lebensbedarf der Familie zu bestreiten und gezwungen, insbesondere ihre drei Kinder der Verelendung auszusetzen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B. v. 24.03.1997 - 2 BvR 1024/95 - juris -) kann sich eine existenzielle Gefährdung auch daraus ergeben, dass der Asylbewerber am Ort der Fluchtalternative für sich das wirtschaftliche Existenzminimum weder aus eigener Kraft noch mit Hilfe Dritter gewährleisten kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 14.12.1993 - 9 C 45/92 - juris -) beurteilt sich die Frage, ob das für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative erforderliche wirtschaftliche Existenzminimum "gewährleistet" ist, nach einer grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise, die die Berücksichtigung individueller Umstände aber nicht ausschließt. Eine inländische Fluchtalternative kann auch dann zu verneinen sein, wenn der Betroffene am Ort der Fluchtalternative keine Verwandten oder Freunde hat, bei denen er Obdach oder Unterstützung finden könnten und ohne eine solche Unterstützung dort kein Leben über dem Existenzminimum möglich ist (BVerwG, a. a. O.). Aus eigener Kraft könnten die Kläger ohne Registrierung am Ort der inländischen Fluchtalternative nicht existieren und auf die Hilfe Dritter könnten sie nicht zurückgreifen, da sie solche Verbindungen nicht besitzen. Wie die Lebensverhältnisse ohne Registrierung am Ort der Fluchtalternative sind, hängt nach Auskunft des Auswärtigen Amtes davon ab, ob die Zuwanderer über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen (AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 27). Über Geld und Familienanschluss können die Kläger nicht verfügen.

Der Senat verkennt nicht, dass eine medizinische Notfallversorgung in dafür bestimmten Notfallkliniken für nicht Registrierte gewährleistet ist (vgl. AA, Lagebericht vom 15.02.2006, S. 30). Indessen ist die Reduzierung der gesundheitlichen Versorgung ihrer Kinder auf die Behandlung akuter Notfälle den in ihrem Herkunftsgebiet von Verfolgung betroffenen Klägern nicht zumutbar, weil für die Kinder die tatsächliche Gefahr bestünde, ernsthafte und irreparable Gesundheits- und Entwicklungsschäden zu erleiden (vgl. insoweit auch Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 f., deren Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 abläuft).

Die allgemeine Annahme, in Ermangelung gegenteiliger Erkenntnisse stellten die unten oder nur am Rande des Existenzminimums lebenden - nicht registrierten - tschetschenischen Flüchtlinge ihr Überleben in der Russischen Föderation auf verschiedene Art und Weise sicher (vgl. OVG Münster, a. a. O., S. 47, Schleswig-Holsteinisches OVG, U. v. 03.11.2005 - 1 LB 259/01 - S. 22 und OVG des Saarlandes, U. v. 23.06.2005 - 2 R 11/03 - S. 27), vermag im Hinblick auf die vorhandene Auskunftslage (vgl. AA, Lagebericht vom 16.02.2006, S. 30) konkrete und verlässliche Feststellungen dazu nicht zu ersetzen, wie in dem vorliegenden Fall die Kläger als Familie mit drei Kindern in der Illegalität ohne eigene Kräfte und ohne familiäre Verbindungen außerhalb Tschetscheniens überleben könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B. v. 24.03.1997 - 2 BvR 1024/95 -) müssen hinsichtlich sämtlicher Elemente der inländischen Fluchtalternative belegbare verlässliche Feststellungen getroffen werden. Diese lassen sich hier jedoch nicht treffen.

d) Die aufgezeigten existenziellen Gefährdungen, denen die Kläger gegenwärtig am Ort der inländischen Fluchtalternative im Gebiet der übrigen Russischen Föderation ausgesetzt wären, können allerdings nur dann Berücksichtigung finden, "sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde" (BVerfGE 80, 315 und BVerfGE 81, 58). Das Asylrecht und auch § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG schützen nicht vor dem Ausweichen in ein verfolgungssicheres Gebiet, wenn die Notlage dort keine andere ist als am Herkunftsort (BVerwGE 105, 204).

Die Notlage der Kläger im Gebiet der inländischen Fluchtalternative ist verfolgungsbedingt. Sie würde die Kläger gegenwärtig am Herkunftsort so nicht treffen.

Die Bevölkerung in Tschetschenien lebt zwar gegenwärtig unter sehr schweren Bedingungen.

Trotz der aufgezeigten im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus schlechteren ökonomischen Lage in Tschetschenien wären die Möglichkeiten zum physischen Überleben für die Kläger individuell bei Rückkehr dorthin vergleichsweise immer noch besser, weil ihnen in ihrem Herkunftsgebiet das unabdingbare soziale Beziehungsgeflecht zur Verfügung stünde, das ihnen zum Überleben in der übrigen Russischen Föderation fehlt.