VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 11.10.2006 - 7 E 3612/04.A (1) - asyl.net: M8970
https://www.asyl.net/rsdb/M8970
Leitsatz:

Kein "religiöses Existenzminimum" im Iran nach Konversion im Ausland.

 

Schlagwörter: Iran, Christen (evangelische), Freikirchen, Neuer Bund, religiös motivierte Verfolgung, Religionsfreiheit, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, religiöses Existenzminimum, Konversion, Apostasie, Missionierung, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 9
Auszüge:

Kein "religiöses Existenzminimum" im Iran nach Konversion im Ausland.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK liegen in der Person der Kläger vor, weshalb die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres streitbefangenen Bescheides zu dieser Feststellung zu verpflichten ist.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - (BGBl 1952 II, S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

Die Unzulässigkeit der Abschiebung ergibt sich hier daraus, dass die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK in ihrem Kernbereich im Iran nicht garantiert ist.

Nach Art. 9 Abs. 1 der Konvention hat nämlich jedermann Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. Nach Abs. 2 darf die Religions- und Bekenntnisfreiheit nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind. Zu dem menschenrechtlichen Mindeststandard, dessen Missachtung in einem Nicht-Vertragsstaat eine Abschiebung dorthin unzulässig machen kann, gehört ein unveräußerlicher - nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht beschränkbarer - Kern der Religionsfreiheit, der für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar ist (BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2000 - 1 C 17/01 BVerwGE 111, 223 - 230). Dessen Verletzung kann im Einzelfall zu einem Abschiebungsverbot aus der EMRK führen. Dieser unbedingt zu schützende menschenrechtliche Kern der Religionsfreiheit reicht indessen nicht weiter als das sogenannte religiöse Existenzminimum, wie es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts durch das Asylrecht geschützt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1994 - 2 BvR 1426/91 -, NVwZ-Beilage 1995, 33 f. und BVerwG a.a.O.).

Die Praktizierung des christlichen Glaubens in diesem Umfang ist für Konvertiten im Iran aber nicht gewährleistet.

Der Iran steht für das Jahr 2006 an dritter Stelle auf dem Welt-Verfolgungs-Index des christlichen Hilfswerks Open Doors, in den Jahren 2004 und 2005 belegte er noch den fünften Platz unter 50 Ländern, in denen Repressionen gegen Christen beobachtet worden sind. Auf diesen Verfolgungs-Index weist das Auswärtige Amt in seinem neuesten Lagebericht vom 24. März 2006 ausdrücklich hin. Ein entsprechender Hinweis auf diesen Index fehlte in den früheren Lageberichten des Auswärtigen Amtes. In dem vom Auswärtigen Amt in Bezug genommenen im Internet allgemein zugänglichen Welt-Verfolgungs-Index - für das Jahr 2006 wird unter Nr. 3.1 - Die ersten Zehn im Detail - zum Iran ausgeführt, die Verschlechterung der Religionsfreiheit für Christen habe 2004 mit dem Sieg konservativer Parteien begonnen. Auf die Wahl von Mahmud Ahmadinedschad zum Präsidenten im Juni 2005 habe eine neue Welle der Christenverfolgung eingesetzt. Örtliche Behörden im ganzen Land seien angewiesen worden, gegen alle christlichen Hausgemeinden hart vorzugehen. Dies habe dazu geführt, dass die christlichen Kirchen einem Gläubigen mit muslimischem Hintergrund nicht mehr beistünden. Gläubige mit muslimischem Hintergrund würden sich jetzt in geheimen Hausgemeinden versammeln.

Es ist danach festzustellen, dass die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich und die Möglichkeit zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich im Iran nur unter konspirativen Bedingungen möglich ist.

Vor diesem Hintergrund ist für das Gericht nicht zu erkennen, auf welchem Weg ein in Deutschland zum Christentum konvertierter Iraner nach seiner Rückkehr in die Islamische Republik Iran zu einer solchen im Geheimen ihren christlichen Glauben praktizierenden Hausgemeinde Kontakt knüpfen soll.

Die Dichte der Hausgemeinschaften ist angesichts der Einwohnerzahl des Iran von etwa 68 Millionen und einer Größe des Landes von 1,6 Millionen qkm und der Diasporasituation der christlichen Gemeinden sehr gering. Selbst wenn sich diese Gemeinschaften auf Städte konzentrieren - es gibt allein sieben Millionenstädte, im Ballungsraum Teheran leben etwa 12 Millionen Menschen - vermag das Gericht nicht zu erkennen, auf welchem Weg die Kläger eine Hausgemeinschaft finden sollten. Sie können nicht an bereits vor ihrer Ausreise bestehende und durch den Auslandsaufenthalt nur unterbrochene Beziehungen anknüpfen, sondern müssen als im Ausland zum Christentum Konvertierte das Vertrauen von Mitgliedern einer sehr kleinen verbotenen Gemeinschaft gewinnen. Können die Kläger damit ihren christlichen Glauben voraussichtlich nicht im häuslich-privaten Bereich leben und besteht wahrscheinlich nicht die Möglichkeit zum religiösen Bekenntnis im häuslich-privaten und nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, so ist das religiöse Existenzminimum nicht gewährleistet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist aber dieser Bereich durch § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK geschützt.