OLG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 23.08.2006 - 2 Ausl A 36/06 - asyl.net: M8982
https://www.asyl.net/rsdb/M8982
Leitsatz:

Keine Auslieferung eines türkischen Staatsangehörigen, der durch ein Staatssicherheitsgericht unter Beteiligung von Militärrichtern verurteilt worden ist; keine Auslieferung bei Zweifeln, ob Strafverfahren dem Grundsatz des fairen Verfahrens entsprach (hier: kein Nachweis der Vertretung durch einen Verteidiger, keine Möglichkeit der Zeugenbefragung durch Angeklagten); drohende Inhaftierung in F-Typ-Gefängnis kein Auslieferungshindernis.

 

Schlagwörter: Auslieferung, Auslieferungshaft, Türkei, Kurden, TKP/ML, TIKKO, Mitglieder, terroristische Vereinigung, Flüchtlingsanerkennung, Folter, Zeugen, Haftbedingungen, Politmalus, Strafurteil, Strafverfolgung, menschenrechtswidrige Behandlung, faires Verfahren, fair trial, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, Staatssicherheitsgericht, Militärrichter, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Verteidiger, Zeugen, mündliche Verhandlung
Normen: EuAlÜbk Art. 3 Abs. 2; EMRK Art. 6 Abs. 3
Auszüge:

Keine Auslieferung eines türkischen Staatsangehörigen, der durch ein Staatssicherheitsgericht unter Beteiligung von Militärrichtern verurteilt worden ist; keine Auslieferung bei Zweifeln, ob Strafverfahren dem Grundsatz des fairen Verfahrens entsprach (hier: kein Nachweis der Vertretung durch einen Verteidiger, keine Möglichkeit der Zeugenbefragung durch Angeklagten); drohende Inhaftierung in F-Typ-Gefängnis kein Auslieferungshindernis.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Türkei ersucht um die Auslieferung des Verfolgten zur weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe aus einem Urteil des Staatlichen Sicherheitsgerichts in O. vom 10.12.1996.

Der Verfolgte beantragt über seine Beistände, die Auslieferungshaft für unzulässig zu erklären.

Der Antrag des Verfolgten hat Erfolg.

Der Senat geht in Angesicht einer Gesamtschau der Beweislage davon aus, dass das in Rede stehende Urteil des Staatlichen Sicherheitsgericht nicht auf der behaupteten Folter beruht.

Es erscheint ausgeschlossen, dass die von dem staatlichen Sicherheitsgericht angeführten Beweise insbesondere die Umstände der Inhaftierung nach dem Banküberfall, insgesamt und vollständig von der türkischen Exekutive im Zusammenspiel mit der Jurisdiktion willkürlich inszeniert wurden, nur um einem unliebsamen Sympathisanten der TKPML-TIKKO verurteilen zu können. Ebenso nicht vorstellbar ist, dass derartig viele Zeugen allein aufgrund polizeilichen Drucks ihre Aussagen tätigten und den Verfolgten als Täter identifizieren. Das staatliche Sicherheitsgericht in O2 hatte im Übrigen das Verfahren gegen den Verfolgten und die Mitangeklagten nicht - wie aus anderen Fällen bekannt - an sich gezogen. Der Verfolgte und die anderen Mitangeklagten wurden zunächst vor verschiedenen ordentlichen Gerichten angeklagt. Diese erklärten sich aber für unzuständig und verwiesen die Verfahren an das Staatliche Sicherheitsgericht in O2.

Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte für die Annahme, dem Verurteilten würden im Falle seiner Auslieferung Folter, menschenunwürdige Behandlung und Repressalien drohen. Er stützt seine Auffassung insoweit auf die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland vom 31.07.2006, in der es heißt:

"Angehörige von Terrororganisationen werden im Strafvollzug nicht schlechter gestellt als andere Häftlinge. Viele aufgrund von Terrordelikten Verurteilte sind in F-Typ Gefängnissen untergebracht, die mitteleuropäischem Standard entsprechen. Die Kritik auch türkischer Menschenrechtsorganisationen wegen der Gefahr einer Isolationshaft kann vom Auswärtigen Amt nach einer eingehenden Untersuchung von F-Typ Gefängnissen nicht bestätigt werden.

Insgesamt sind die Fälle von Folter und Misshandlungen im türkischen Strafvollzug seit 1999 kontinuierlich zurückgegangen. Seit Inkrafttreten der "Änderungsverordnung zur Verordnung bzgl. Festnahme, Polizeigewahrsam und Verhör" vom 03.01.2004, die zur ärztlichen Eingangs- und Ausgangsuntersuchungen bei in Gewahrsamnahme verpflichtet, kann davon ausgegangen werden, dass aktuelle Fälle von Folter und Misshandlung nahezu ausschließlich bei nicht offiziell erfassten polizeilichen Ingewahrsamnahmen und Inhaftierung vorkommen. Außerdem haben viele der angezeigten Fälle keinen im weitesten Sinne als "politisch" bezeichneten Hintergrund (z. B. Zugehörigkeit zu politischen Organisationen) sondern beziehen sich auf den Verdacht anderer Form von Kriminalität, z. B. Verfolgung von Drogendelikten.

Eine Kopie des Vermerks der Botschaft O10 über den Besuch eines F-Typ Gefängnisses vom 22.102004 füge ich diesem Schreiben als Anlage bei."

In dem in dieser Stellungnahme in Bezug genommenen Vermerk des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in O10 über einen Besuch eine F-Typ Gefängnisses vom 22.10.2004 lautet die zusammenfassende Wertung wie folgt:

"Das G. macht einen weit besseren Eindruck als es den Erwartungen der Besucher entsprochen hatte. Zumindest für die Türkei scheint es absolut vorbildlich zu sein, ein Vergleich mit deutschen Gefängnissen braucht es nicht zu scheuen. Der zu den F-Typ Gefängnissen oft gehörte Vorwurf, die Gefangenen würden dort in Isolation gehalten werden, kann nach dem Besuch in keiner Weise bestätigt werden."

Die türkischen Regierung hat völkerrechtlich verbindlich zugesichert, dass der Verfolgte im Fall seiner Auslieferung in einem solchen F-Typ Gefängnis untergebracht werden würde.

Der Senat hat ebenfalls keine ernstlichen Gründe für die Annahme, die beabsichtigte Strafvollstreckung gegen den Verfolgten trage in einer über die bloße Ahndung krimineller Delikte hinausgehenden Weise den Charakter politischer Verfolgung, so dass insoweit ein Auslieferungshindernis i.S.d. Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk vorliegen würde. Das in Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk niedergelegte Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung knüpft an asylerhebliche Merkmale an. Es ist im Zulässigkeitsverfahren insbesondere dann zu prüfen, wenn das Auslieferungsersuchen einer Ahndung staatsfeindlicher Aktivitäten durch die Anwendung von Staatsschutzdelikten (hier: Versuch der Änderung der verfassungsmäßigen Staatsordnung mit Waffengewalt Art. 146/1 Türkisches StGB) dient, deren Unrechtsgehalt ausschließlich oder ganz überwiegend durch den Angriff auf das politische Rechtsgut geprägt ist. Wird der unter Umständen generalklauselartige Tatbestand des Staatsschutzdelikts im Einzelfall aber nur genutzt, um eine Verletzung individueller Rechtsgüter der Bürger in der bei der Ahndung solcher Taten üblichen Weise zu bestrafen, so liegt keine politische Verfolgung vor. Sie ist also nur zu bejahen, wenn aufgrund bestimmter Indizien (besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen, "Politzuschlag" bei der Strafzumessung, Vorschieben krimineller Handlungen, Fälschung von Beweismaterial, Manipulation des Tatvorwurfs, unzureichende Sachbehandlung) trotz des kriminellen Charakters der zur Rede stehenden Tat zu befürchten oder zu beanstanden ist, dass dem Verfolgten eine Behandlung droht oder er einer solchen unterzogen wurde, die aus politischen Gründen härter ausfällt oder ausgefallen ist, als die sonst zur Verfolgung ähnlich gefährlicher Straftaten im ersuchenden Staat übliche (vgl. zu alledem BVerfGE 80, 336-339; BVerfGE 81,142, 149-153). Derartige Indizien liegen hier - wie oben bereits erörtert - nicht vor.

Der Verfolgte ist insbesondere nicht wegen seiner Sympathie zu einer rein politischen Vereinigung, sondern wegen Mitgliedschaft in der Organisation TKPML - TIKKO verurteilt worden.

Die TKPML - TIKKO wird dagegen in dem Jahresbericht 1999 des Bundesamtes für Verfassungsschutz folgendermaßen beschrieben:

Beide Flügel der TKPML operierten in der Türkei terroristisch und unterhielten in Deutschland Basisorganisationen, die ihre Verbundenheit mit der TKPML weitgehend verschleiern. Die in zwei Flügeln "DABK" und "PARTISAN" gespaltene TKPML betone den bewaffneten Kampf als Grundform ihres Handelns und sei überzeugt, dass der einzige Weg zur Befreiung des türkischen Volkes über den bewaffneten Volkskrieg mit anschließender Bildung einer Volksregierung führe, ihr militärischer Zweig sei die türkische Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee (TIKKO), die Partei setzte weiterhin auf den bewaffneten Kampf zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele.

Die Auslieferung war dennoch für unzulässig zu erklären.

Nach Prüfen der gesamten Auslieferungsunterlagen blieb es letztlich zweifelhaft, ob das Verfahren vor dem Staatlichen Sicherheitsgericht in O2 den Anforderungen an ein faires Verfahren im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention genügte und damit gegebenenfalls auch ein Verstoß gegen unabdingbare Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vorliegt.

Diese Zweifel am Bestehen der tatsächlichen Voraussetzung eines Auslieferungshindernisses waren zugunsten des Verurteilten zu berücksichtigen.

Der Verfolgte ist von einem Staatlichen Sicherheitsgericht der Türkei 1996 verurteilt worden. Diese Staatlichen Sicherheitsgerichte und ihre Verfahren standen in ständiger massiver Kritik der UNO, verschiedener Menschenrechtsorganisationen, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Regierungen und Gerichte der Mitgliedstaaten der EU. Die Staatlichen Sicherheitsgerichte der Türkei wurden 2004 - letztlich wegen dieser anhaltenden Kritik und erstrebten Aufnahme in die EU - reformiert. Die Kritik bezog sich allerdings im weit überwiegenden Maße auf Verfahren vor den Staatlichen Sicherheitsgerichten, in denen Menschen allein auf Grund ihrer politischen Ansichten - die im Gegensatz zur Staatspolitik der Republik Türkei standen - in nicht hinnehmbarer Art und Weise zu oft extrem und nicht mehr hinnehmbaren Strafen verurteilt worden sind.

So verhält es sich - wie oben dargelegt - vorliegend nicht.

Diese Zweifel fußen zunächst auf dem Umstand, dass an der in Rede stehenden Entscheidung ein Militärrichter beteiligt war.

Es ist inzwischen gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass zur Bindung an Gesetz und Recht der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen methodischer Gesetzesauslegung auch die Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gehören. Eine fehlende Auseinandersetzung mit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann deshalb zu einem Verstoß gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip führen (vgl. dazu zusammenfassend die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.10.2004 - 2 BVR 1481/04 -, abgedruckt in NJW 2004 3407 f.).

Auch der Bundesgerichtshof prüft ein Auslieferungsverbot inzwischen nicht nur an Elementargarantien und am wesentlichen Kern der Rechtsstaatlichkeit, sondern zieht - wie das Bundesverfassungsgericht - andere Maßstäbe heran, insbesondere Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (BGH, Beschluss vom 16.10.2001 - 4 ARs 4/01 = StV 2002, 85 = NStZ 2002, 166 = JZ 2002, 464).

Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Entscheidung vom 09.06.1998 EGMR, Slg. 1998 - IV, S, 1504 und vom 28.10.1998 EGMR, Slg. 1998 - VIII, S. 3059) sprechen einige Aspekte des Status von Militärrichtern als Mitglied eines nationalen Sicherheitsgerichts tatsächlich für einige Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, andererseits könne dieser Status aber auch objektive Zweifel eines Zivilisten an ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit begründen.

Dieser Auffassung kann sich der Senat nicht verschließen, zumal auch andere Aspekte des Verfahrens gegen den Verfolgten Zweifel bestehen lassen, dass es sich um ein faires, den Grundanforderungen an eine rechtsstaatliche Vorgehensweise gerecht werdendes Verfahren handelte.

Aus den Auslieferungsunterlagen ist nicht mit Sicherheit erkennbar, dass der Verfolgte während des gesamten Verfahrens von einem Verteidiger vertreten wurde.

Weiterhin ist ein Verstoß gegen ein faires Verfahren im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention deshalb nicht auszuschließen, weil aus den Auslieferungsunterlagen nicht erkennbar ist, ob es dem Verfolgten als Angeklagten möglich war, in der Hauptverhandlung oder davor direkt Fragen an die ihn belastenden und identifizierenden Zeugen zu stellen.