VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 07.06.2006 - 8 E 1402/04 - asyl.net: M8983
https://www.asyl.net/rsdb/M8983
Leitsatz:

1. Das Gericht prüft im Rahmen der Befristungsentscheidung, ob die Entscheidung den gesetzlich zulässigen Entscheidungsraum eingehalten hat, indem sie von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, den Gleichbehandlungsgrundsatz beachtet hat und weder grob sachwidrig noch willkürlich erscheint. Es prüft nicht, ob auch andere, die Kläger möglicherweise weniger belastende Entscheidungen möglich gewesen wären.

2. Es ist im Rahmen der Überprüfungsmöglichkeit nach § 114 Satz 1 VwGO nicht zu beanstanden, wenn die Behörde bei der Verwirklichung eines Ist-Ausweisungstatbestandes grundsätzlich eine Befristung auf 10 bis 15 Jahre, bei der Verwirklichung eines Regelausweisungstatbestands eine Befristung von 5 bis 10 Jahren und bei der Verwirklichung eines Kann-Ausweisungstatbestands eine Befristung auf ein halbes Jahr bis fünf Jahre für zulässig hält.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, atypischer Ausnahmefall, Ermessen, zwingende Ausweisung, Ist-Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Heranwachsende, Bundeszentralregistergesetz, Tilgungsfrist
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3; VwGO § 114 S. 1; AuslG § 48 Abs. 2 S. 2; AuslG § 47 Abs. 3
Auszüge:

1. Das Gericht prüft im Rahmen der Befristungsentscheidung, ob die Entscheidung den gesetzlich zulässigen Entscheidungsraum eingehalten hat, indem sie von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, den Gleichbehandlungsgrundsatz beachtet hat und weder grob sachwidrig noch willkürlich erscheint. Es prüft nicht, ob auch andere, die Kläger möglicherweise weniger belastende Entscheidungen möglich gewesen wären.

2. Es ist im Rahmen der Überprüfungsmöglichkeit nach § 114 Satz 1 VwGO nicht zu beanstanden, wenn die Behörde bei der Verwirklichung eines Ist-Ausweisungstatbestandes grundsätzlich eine Befristung auf 10 bis 15 Jahre, bei der Verwirklichung eines Regelausweisungstatbestands eine Befristung von 5 bis 10 Jahren und bei der Verwirklichung eines Kann-Ausweisungstatbestands eine Befristung auf ein halbes Jahr bis fünf Jahre für zulässig hält.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten, über seinen Antrag auf Befristung der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG werden die in den Sätzen 1 und 2 der Vorschrift bezeichneten Wirkungen der Ausweisung (sog. Sperrwirkung) auf Antrag in der Regel befristet. Ob die Voraussetzungen der Regelbefristung im Einzelfall erfüllt sind, unterliegt als gesetzliches Tatbestandsmerkmal des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG der vollen gerichtlichen Nachprüfung (BVerwG, Urt. v. 11.08.2000 - 1 C 5.00 -, BVerwGE 111, 369).

Der Gesetzgeber geht in § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG grundsätzlich davon aus, dass eine zeitlich befristete Ausweisung in der Regel zur Erreichung der damit verfolgten Zwecke genügt. Die Worte "in der Regel" beziehen sich dabei auf Fälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden, also typische Sachverhalte betreffen. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen.

Die Kammer nimmt in Übereinstimmung mit den Beteiligten an, dass ein Regelfall vorliegt. Bei der Abgrenzung von Regel- und Ausnahmefall ist zunächst das Gewicht des Ausweisungsgrundes zu berücksichtigen (vgl. auch die Äußerung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren, eine Regelbefristung der Ausweisung erscheine in besonders gravierenden Fällen, z.B. bei BTM-Tätern, nicht angebracht [BT-Drucks. 11/6541, S. 2]). Weiter sind die mit der Ausweisung verfolgten spezial- und/oder generalpräventiven Zwecke zu berücksichtigen. Die Sperrwirkung muss so lange bestehen, wie es diese Zwecke im Einzelfall erfordern. Eine Befristung scheidet daher aus, wenn die von der Ausländerbehörde zu stellende Prognose ergibt, dass der Ausweisungszweck auch am Ende einer dem Ausländer zu setzenden längeren Frist voraussichtlich, etwa wegen seiner besonderer Gefährlichkeit (Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 2000, S. 308 [Rn. 443]) nicht erreicht sein wird. Bei der Entscheidung über die Befristung ist auch das Verhalten des Ausländers nach der Ausweisung zu würdigen. Eine Ausnahme von der Regel kann in Betracht kommen, wenn ein Ausländer nicht freiwillig ausgereist ist (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 11/6321, S. 57) oder sich gar erfolgreich der Abschiebung widersetzt hat (Renner, a.a.O.). Eine Ausnahme von der Regel ist hingegen zu verneinen, wenn der Versagung der Befristung höherrangiges Recht entgegensteht, insbesondere die Versagung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen, namentlich dem Schutz von Ehe und Familie unvereinbar ist (vgl. BVerwG, B. v. 02.05.1996, 1 B 194.95 -, Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 5). Auch andere gesetzliche Schutzbestimmungen, etwa Normen des Europarechts können der Bejahung eines Ausnahmefalles entgegenstehen. In Betracht kommt hier Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686, 953/1954 II S. 14) - EMRK - der mit dem Begriff des Familienlebens einen größeren Schutzbereich als Art. 6 GG beschreibt, denn er umfasst insbesondere auch das Verhältnis zu nahen Verwandten außerhalb der so genannten Kleinfamilie.

Dem Beklagten war damit nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Ermessensentscheidung über die Dauer der Sperrfrist der Abschiebung eröffnet. Zu den für diese Fristbemessung maßgeblichen Grundsätzen ist Folgendes auszuführen: Die Ausweisung verfolgt den Zweck, die Allgemeinheit vor dem Ausländer wegen der Gefahr einer Wiederholung bzw. Fortdauer der Ausweisungsgründe zu schützen (Spezialprävention) und - wo zulässig - andere Ausländer von der Verwirklichung der Ausweisungsgründe abzuschrecken (Generalprävention). Die Dauer der Sperrwirkung ist daher danach zu bestimmen, wann der oder die Ausweisungszwecke voraussichtlich erreicht sein werden, wobei nicht auf die abstrakt möglichen, sondern auf die in der zugrunde liegenden Ausweisungsverfügung konkret festgelegten Zwecke abgestellt wird. Bei dieser Prognose sind alle - vor allem auch nachträglich eintretende - Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, soweit sie geltend gemacht oder erkennbar sind. In diesem Kontext ist auch das Gewicht des Ausweisungsgrundes im Rahmen des Systems der §§ 53 ff. AufenthG maßgeblich zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.2000, a.a.O. zum AuslG). Die Sperrwirkung darf dabei aber nur so lange fortbestehen, wie es die ordnungsrechtlichen Zwecke im Einzelfall erfordern. Sind diese Zwecke andererseits (sämtlich) erreicht, ist es nicht länger gerechtfertigt, die Sperrwirkung aufrecht zu erhalten (Zweckerreichung als Fristobergrenze; dazu BVerwG, Urt. v. 11.08.2000, a.a.O.). Ferner sind die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen höherrangigen Rechts, vornehmlich die Wertentscheidungen des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK sowie der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BVerwG, Urt. v. 11.08.2000, a.a.O.).

Bei Anwendung dieser Grundsätze prüft das Gericht aber nur, ob die Befristungsentscheidung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 114 Satz 1 VwGO).

Soweit der Beklagte im Rahmen seiner Befristungsentscheidung auf die Grundsätze abstellt, die das Verwaltungsgericht Augsburg in seinem rechtskräftig gewordenen Urteil vom 2. Mai 2000 (Au 1 K 98.1922, Leitsätze in NVwZ-RR 2000, 836) aus der Systematik des Ausländergesetzes unter Berücksichtigung der Art. 2 und des 6 GG sowie des Art. 8 EMRK herausgearbeitet hat, erscheint dies der Kammer nicht ermessensfehlerhaft. Danach reicht der Rahmen für die im Regelfall gebotene Befristung von einem halben Jahr bis zu 15 Jahren. Das Ausländergesetz und das Aufenthaltsgesetz unterscheiden insoweit zwischen den Tatbeständen der Ist-Ausweisung, der Regelausweisung und der Kann- bzw. Ermessensausweisung. Es ist deshalb im Rahmen des Prüfungsrahmens des § 114 Satz 1 VwGO nicht zu beanstanden, diese Dreiteilung zu übernehmen und innerhalb des Rahmens von einem halben Jahr bis zu 15 Jahren gleichmäßig drei Abstufungen zu bilden. Dies bedeutet, dass bei der Verwirklichung eines Ist-Ausweisungstatbestands grundsätzlich eine Befristung auf 10 bis 15 Jahre, bei der Verwirklichung eines Regelausweisungstatbestands eine Befristung von 5 bis 10 Jahren und bei der Verwirklichung eines Kann-Ausweisungstatbestands eine Befristung auf ein halbes Jahr bis fünf Jahre nicht als ermessensfehlerhaft angesehen werden können.

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist vorliegend der Befristungsrahmen einer Ist-Ausweisung heranzuziehen. Die Kammer hält nicht an der im Eilbeschluss (8 G 877/00(2)) vertretenen Rechtsauffassung fest, dass es sich bei dem Verweis in § 48 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1990 auf § 47 Abs. 3 AuslG 1990 hinsichtlich der Herabstufungsmöglichkeit der Ist-Ausweisungstatbestände um einen Rechtsfolgenverweis handelt. Vielmehr geht die Kammer in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass es sich bei dem Verweis in § 48 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1990 um einen einheitlichen Rechtsgrundverweis handelt (OVG NRW, B. v. 15.09.1999 - 17 B 2000/98 -; BayVGH, B. v. 20.09.2001 - 10 ZS 01.716 -; VGH BW, B. v. 13.05.2004 - 11 S 1080/04 -; Hess. VGH, B. v. 11.01.2001 - 7 TZ 2272/00 -).

Nach § 48 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1990 wurde ein Heranwachsender nur nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 AuslG 1990 ausgewiesen. Nach dem Urteil des Landgerichts B-Stadt am Main, das eine Zuordnung zu den Tatbestandsvoraussetzungen des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 erlaubt, käme eine Herabstufung zu einer Regelausweisung nur in Betracht, wenn der Kläger die besonderen Voraussetzungen des § 47 Abs. 3 AuslG 1990 erfüllt hätte. Eine Herabstufung der Ist-Ausweisung zu einer Regelausweisung hätte daher das Vorliegen eines besonderen Ausweisungsschutzes nach § 48 Abs. 1 AuslG 1990 vorausgesetzt.