OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 12.09.2006 - 3 Bs 461/04 - asyl.net: M8990
https://www.asyl.net/rsdb/M8990
Leitsatz:

§ 60 Abs. 70 AufenthG bei Diabetes mellitus; in der Republika Srpska kein Insulin erhältlich; kein Zugang zur medizinischen Versorgung im übrigen Bosnien und Herzegowina wegen Schwierigkeiten bei der Registrierung; Erlangung von Wohnraum und Zugang zur Krankenversicherung zweifelhaft.

 

Schlagwörter: D (A), Bosnien-Herzegowina, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Diabetes mellitus, Beistandsgemeinschaft, Kinder, Volljährigkeit, Aufenthaltserlaubnis, medizinische Versorgung, Republika Srpska, bosnisch-kroatische Föderation, interne Fluchtalternative, Wohnraum, Freizügigkeit, Registrierung, Finanzierbarkeit, Krankenversicherung, Beweiswürdigung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 25 Abs. 3; VwGO § 123
Auszüge:

§ 60 Abs. 70 AufenthG bei Diabetes mellitus; in der Republika Srpska kein Insulin erhältlich; kein Zugang zur medizinischen Versorgung im übrigen Bosnien und Herzegowina wegen Schwierigkeiten bei der Registrierung; Erlangung von Wohnraum und Zugang zur Krankenversicherung zweifelhaft.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beschwerde hat nach Maßgabe des Beschlusstenors teilweise Erfolg.

1. Bezüglich des Antragstellers zu 3) kann der angefochtene Beschluss mit der dort gegebenen Begründung unter Berücksichtigung der insoweit erfolgten Beschwerdebegründung dagegen keinen Bestand haben; damit ist das Beschwerdegericht insoweit berechtigt und verpflichtet, ohne die Beschränkung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO über die Beschwerde in eigener Kompetenz zu entscheiden (zu dieser Folge vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 9.12.2003 - 3 Bs 415/02).

Das o.g. Attest des Dr. K.. vom 21. Oktober 2004 deutet darauf hin, dass der Antragsteller zu 3) wegen geistiger Retardierung und Persönlichkeitsstörung dauerhaft einer besonders qualifizierten und intensiven diabetologischen Betreuung bedarf, um ernsthaften gesundheitlichen Gefährdungen vorzubeugen. Soweit die Beschwerde geltend macht, dass dies für ihn in Bosnien und Herzegowina nicht möglich sei, spricht einiges für die Richtigkeit dieses Vortrags angesichts der Auskunftslage zur dortigen medizinischen Versorgung (vgl. dazu die noch folgenden Ausführungen unter "2."). Vor diesem Hintergrund ist die vom Verwaltungsgericht gegebene Begründung nicht hinreichend tragfähig, um mit der - angesichts der in Rede stehenden gesundheitlichen Risiken - erforderlichen Gewissheit das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses bezogen auf eine Rückkehr des Antragstellers zu 3) nach Bosnien und Herzegowina auszuschließen. Der Umstand, dass ihm ein Insulinvorrat für einen Monat mitgegeben werden soll, ist insoweit unerheblich, da mit einer solchen Maßnahme nur den mit einer Abschiebung an sich für einen Übergangszeitraum verbundenen Problemen begegnet würde; damit könnte kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, sondern llenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis beseitigt werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002, DVBl. 2003 S. 463, 464). Soweit das Verwaltungsgericht angenommen hat, nach einer Übergabe des Antragstellers zu 3) in (flughafen-) ärztliche Obhut sei es Aufgabe seines Heimatstaats, für die erforderliche medizinische Betreuung zu sorgen, ist diese Vorsorge für sich genommen unzureichend, wenn - wie dies hier als jedenfalls gut möglich erscheint - dieser Staat die erforderliche Hilfe tatsächlich nicht leisten kann oder will.

2. Die Beschwerde des Antragstellers zu 3), über die das Beschwerdegericht somit im Wege einer eigenen, nicht mehr nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkten Prüfung entscheidet, hat nach Maßgabe des Beschlusstenors Erfolg. Der Antragsteller zu 3) hat sowohl den nach § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch als auch den notwendigen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (a); der Beschlusstenor erreicht in sachgerechter Weise den Zweck des hier gebotenen vorläufigen Rechtsschutzes (b).

a) Es besteht eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit, dass einer Abschiebung des Antragstellers zu 3) nach Bosnien und Herzegowina ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegensteht, was wiederum einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG begründen könnte.

aa) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Die Diabeteserkrankung ist mit gravierenden, potentiell lebensbedrohlichen Gefahren verbunden, wenn sie nicht richtig behandelt wird, wobei der Behandlungs- und Betreuungsaufwand im Fall des Antragstellers zu 3) wegen seiner geistigen Retardierung und Persönlichkeitsstörung noch erhöht sein dürfte (vgl. das Attest des Diabetologen Dr. K vom 21.10.2004). Dass der Antragsteller zu 3) in Bosnien und Herzegowina die erforderliche Behandlung und Betreuung erhalten würde, erscheint nach der gegenwärtig erkennbaren Sachlage als zumindest zweifelhaft. In der Republika Srpska (RS), in deren Gebiet die Antragsteller zuletzt gelebt hatten, ist Insulin nach dem neuesten Bericht des Auswärtigem Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Bosnien und Herzegowina vom 7. August 2006 überhaupt nicht mehr zu haben (Lagebericht S. 21). Ob der Antragsteller zu 3) die Möglichkeit hätte, sich (statt in der RS) im Gebiet der bosnisch-kroatischen Föderation (i. f.: Föderation) niederzulassen und dort das für ihn erforderliche Insulin sowie die notwendige ärztliche Behandlung und Betreuung zu erhalten, erscheint jedenfalls ungewiss:

Zum einen ist unklar, ob es ihm (ggf. gemeinsam mit den anderen Antragstellern) überhaupt gelingen könnte, einen Wohnsitz in der Föderation zu begründen. Zwar haben die Staatsangehörigen von Bosnien und Herzegowina gemäß der dortigen Verfassung das Recht, sich überall im Staatsgebiet niederzulassen (Auskunft des AA an das VG Düsseldorf vom 20.1.2006, Antwort 1 a, Auskunft 2006/1 in der Asyldokumentation der hamburgischen Verwaltungsgerichte). Ob er dieses Recht praktisch ausüben könnte, erscheint allerdings fraglich. Für den Bezug staatlicher Leistungen (wie z. B. der Sozialhilfe oder der staatlichen Krankenversicherung) ist eine sog. Registrierung erforderlich (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH -, Auskunft vom 17.5.2006, S. 3, Auskunft G 2/06 Asyldokumentation); offenbar ist es jedoch üblich, dass die betreffende Gemeinde die Registrierung an das dortige Vorhandensein von Wohnraum (Eigentums-/Mietwohnung) knüpft (vgl. SFH, Auskunft vom 17.5.2006, a. a. O.). Ob und wie die Antragsteller in der Föderation an Wohnraum gelangen könnten, erscheint unklar. Zudem führt das Auswärtige Amt in dem o. g. Lagebericht vom 7. August 2006 zum Thema Registrierung von Rückkehrern u. a. aus: "Ist die verlassene Wohnung beziehbar, ist eine Registrierung an einem anderen Ort als dem Wohnort nicht möglich. ... Bei Zerstörung oder Besetzung der Wohnung erfolgt die Registrierung anderswo, in der FBIH (sc. der Föderation) in dem Kanton, der dem Vorkriegswohnort am nächsten liegt" (Lagebericht, S. 24). Angesichts des Umstands, dass der Antragsteller zu 1) laut einer Bescheinigung der Gemeinde N. vom 23. November 2005 ein Wohnobjekt in P. besitzt, das einschließlich der Nebengebäude "verwüstet und nicht bewohnbar" ist (Anlage zum Schriftsatz des Antragstellervertreters vom 23.12.2005), führt dies zu der Frage, in welchem Ort genau "anderswo" eine Registrierung erfolgen könnte. Die von der Antragsgegnerin auf die gerichtlichen Verfügungen vom 19. Januar 2005 und vom 1. Juni 2005 erwirkten Mitteilungen der Deutschen Botschaft Sarajewo vom 11. Mai 2005, 29. Juli 2005 und (als e-mail) vom 20. September 2005 bieten insoweit keinen Aufschluss.

Zum anderen erscheint es als zweifelhaft, ob der Antragsteller zu 3) im Falle einer Wohnsitzgründung in der Föderation dort die Leistungen der staatlichen Krankenversicherung beziehen könnte, und ob diese ggf. ausreichen würden, um schwerwiegende gesundheitliche Schäden zu verhindern. Die Mitteilungen der Botschaft Sarajewo vom 29. Juli 2005 und vom 20. September 2005 beantworten die Fragen des Beschwerdegerichts aus der Verfügung vom 1. Juni 2005 insoweit nicht hinreichend. Ergänzend bleibt darauf hinzuweisen, dass auch in der Föderation die medikamentöse Versorgung von staatlich Krankenversicherten offenbar ungleichmäßig und unstetig ist. Das Auswärtige Amt weist im Lagebericht vom 7. August 2006 (S. 23) darauf hin, dass selbst die sog. Pflichtarzneimittel ("Medikamente, die ständig verfügbar und für Patienten weitgehend kostenlos zu beziehen sein sollten") in manchen Kantonen nur gegen Entrichtung des vollen Preises zu erhalten sind, weil dort die jährlich zu aktualisierenden diesbezüglichen Listen nicht existieren, und dass überhaupt der tatsächliche Umfang der Versicherungsleistungen je nach Finanzkraft der Kantone deutliche Unterschiede aufweise, was sich auf die Selbstbeteiligung der Patienten auswirke (entsprechende Aussagen enthielten auch bereits die vorherigen Lageberichte, vgl. den Lagebericht vom 4.5.2004, S. 29; Lagebericht vom 2.2.2005, S. 31; Lagebericht vom 29.8.2005, S. 34). Angesichts dessen bleibt unklar, ob der Antragsteller zu 3) - sofern es ihm gelänge, im Gebiet der Föderation Mitglied der staatlichen Krankenversicherung zu werden - das für ihn notwendige Insulin und die erforderliche begleitende ärztliche Versorgung über die staatliche Krankenversicherung erhalten würde. Laut der Mitteilung der Deutschen Botschaft Sarajewo an die Antragsgegnerin ist zudem die Abgabe von Insulin an Patienten gegen Entgelt in Bosnien und Herzegowina illegal.

Soweit schließlich das OVG Münster in einem Beschluss vom 14. Juni 2005 (AuAS 2005 S. 189 f.) ausgeführt hat, es entspreche seit dem Jahr 2000 der übereinstimmenden Auskunftslage, dass Diabetes mellitus in Bosnien und Herzegowina grundsätzlich behandelt werden könne (Insulin sei in ausreichendem Maße verfügbar und werde gegen Rezeptvorlage kostenlos an Patienten abgegeben), ergibt sich aus den bereits genannten Gründen auch daraus für das Beschwerdegericht keine Bewertung zu Lasten des Antragstellers zu 3). Dies gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil die insoweit vom OVG Münster zitierten Erkenntnisquellen aus dem Zeitraum von Januar 2000 und bis März 2003 stammen und somit die hier zugrunde gelegten, aktuelleren Auskünfte nicht berühren können.

b) Die somit festzuhaltenden Unklarheiten und Zweifel gehen jedenfalls im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens zu Lasten der Antragsgegnerin. Angesichts der für den Antragsteller zu 3) bestehenden Risiken und der für ihn auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter überwiegt sein Interesse an einer Aussetzung der Abschiebung.

Das Beschwerdegericht gewährt den somit gebotenen vorläufigen Rechtsschutz nach Maßgabe des Beschlusstenors, weil dadurch - anders als mit dem Antrag aus der Eilantragsschrift vom 30. September 2004, an dessen Wortlaut das Gericht nach §§ 123 Abs. 3 VwGO, 938 Abs. 1 ZPO nicht gebunden ist - der Rechtsschutzzweck sachgerecht erreicht wird. Sachgerechter ist es daher, den vorläufigen Rechtsschutz des Antragstellers zu 3) mit der (auch) von ihm erhobenen Klage zu verknüpfen, welche nach wie vor beim Verwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen 21 VG 76/2002 anhängig ist.