VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 28.11.2005 - 3 A 4032/02 - asyl.net: M9018
https://www.asyl.net/rsdb/M9018
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Hypertonie, Herzerkrankung, medizinische Versorgung, interne Fluchtalternative, Finanzierbarkeit, allgemeine Gefahr, Abschiebungsstopp, Erlasslage, extreme Gefahrenlage, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Sachlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Die Voraussetzungen für eine (ggf. nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG gebotene) Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG, namentlich - was hier allein in Betracht kommt und im folgenden auch nur zu erörtern ist - eines solchen Verbotes gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG (früher § 53 Abs. 6 AuslG) sind trotz der bei den Klägern gegebenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, welche in erster Linie ihrer Abschiebung nach der genannten Vorschrift entgegenstehen könnten, nicht erfüllt.

Das Gericht ist allerdings bereits bei der Formulierung der an den behandelnden Arzt gerichteten Beweisfrage nicht (allenfalls hypothetisch) davon ausgegangen und nimmt auch weiterhin nicht an, dass ein Abbruch der derzeitigen Behandlung der Magen- und Herzerkrankung des Klägers im Abschiebungsfalle mit der für die Bejahung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorauszusetzenden beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -; BVerwGE 99, 324; BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 15.95 -, BVerwGE 99, 331; BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 295) wegen der zur Zeit im Irak bestehenden z. T. noch völlig unzureichenden Gesundheitsversorgung bevorstehen würde. Eine dahingehende Annahme fände in den gegenwärtig verfügbaren Auskünften über die aktuelle Lage im Irak keine hinreichende Stütze. Dabei ist zunächst zu dem durch Auslegung zu bestimmenden weiteren Regelungsgehalt des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG noch anzumerken, dass diese Vorschrift den Ausländer vor einer Abschiebung nur dann schützen soll, wenn ihm die in ihr genannten Gefahren landesweit drohen und er sich ihnen nicht durch ein Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, a.a.O.). Hiervon ausgehend ist zum einen auf die an das Oberverwaltungsgericht Greifswald gerichtete Stellungnahme des Deutschen Orient-Institutes, Hamburg, vom 22. März 2005 zu verweisen, in der es u. a. heißt, im Irak gebe es im Moment an Medikamenten fast alles, was auch in europäischen Apotheken zu bekommen sei. Die Dinge würden über die Türkei, teilweise über Iran, nach Irak importiert. Alles sei dort eine Preisfrage. Lediglich "abseitig-spezielle" Medikamente seien ggf. im Irak nicht oder nur zu sehr hohen Preisen erhältlich. Das Angebot verbessere sich auch. Natürlich sei es regional sehr unterschiedlich. Es hänge viel davon ab, wohin der Ausländer zurückkehren müsse. In den kurdischen Gebieten sei die Versorgung ebenfalls, jedenfalls in den großen Städten Arbil, Suleimaniya und Dohuk, mit Standardmedikamenten unproblematisch möglich.

Indessen liegen auch Auskünfte vor, die darauf hindeuten, dass der Kläger zu 1) dennoch im Falle einer Abschiebung in seinem Heimatland - jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung einer ausreichenden Versorgung mit Medikamenten - nicht sehr erheblich in seiner Bewegungsfreiheit, d. h. in seiner Freiheit, seinen künftigen Aufenthaltsort unter sonstigen sachlichen oder persönlichen Aspekten frei zu wählen, eingeschränkt wäre. So hebt etwa der UNHCR in seinen Stellungnahmen vom 28. Januar und 2. August 2005 auf Anfragen des VG München bzw. des VG Ansbach ausdrücklich hervor, über die absolut notwendige Erstversorgung hinaus erforderliche Medikamente seien zwar grundsätzlich nicht über die Krankenhäuser verfügbar, sondern müssten in Apotheken auf dem freien Markt erworben werden. Dort (also in Apotheken) seien aber "im Prinzip Medikamente mit marktüblichen Wirkstoffen erhältlich". Auf etwaige regionale Unterschiede in bezug auf diese Versorgungslage weist der UNHCR in diesem Zusammenhang nicht hin, was dafür spricht, dass insoweit, als es um marktübliche Medikamente geht, tatsächlich von einer im wesentlichen flächendeckenden Verfügbarkeit ausgegangen werden kann.

Droht dem Kläger zu 1) demnach im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland nicht schon wegen einer objektiven Unzugänglichkeit der von ihm benötigten medikamentösen Behandlung eine die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllende Gesundheitsgefahr, so ist allerdings andererseits nicht zu verkennen, dass er womöglich (subjektiv) nicht in der Lage wäre, einer solchen Behandlung teilhaftig zu werden. Diese Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen, weil der Kläger zu 1) voraussichtlich gezwungen wäre, die Kosten der Behandlung selbst zu tragen, zumal es eine staatliche Kranken(grund)versorgung im Irak nicht gibt (vgl. Deutsches Orient-Institut, Hamburg, Auskunft vom 2. Juni 2005 an das VG Düsseldorf; ferner Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16. Januar 2005 an das VG Düsseldorf). Hierzu wäre der Kläger nach Maßgabe der bisherigen Angaben der Kläger zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in der Lage. Denn nach den Erkenntnissen des UNHCR (Stellungnahme vom 2. August 2005, a.a.O.) sind die Preise für Arzneimittel im Irak "extrem hoch", weshalb dort auch nach Einschätzung des UNHCR in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit und der niedrigen Löhne die Beschaffung von Arzneimitteln insbesondere für Personen mit besonderen medizinischen Bedürfnissen und für chronisch Kranke ein erhebliches Problem darstellt.

Die Gefahr, dass dem Kläger zu 1) im Irak die in seinem Falle erforderliche medikamentöse Behandlung womöglich mit der Folge einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes aus finanziellen Gründen vorenthalten bliebe, stellt eine sog. "allgemeine" Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar. Mit dieser Annahme schließt sich das Gericht der Rechtsprechung u.a. des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs an, soweit er in seinem in einem ähnlich gelagerten, wenn auch ein anderes Herkunftsland betreffenden, Beschluss vom 10. Oktober 2000 (- 25 B 99.32077 -, zitiert nach juris) ausgeführt hat: ...

Diese Rechtsprechung (vgl. ebenso OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Juli 2003 - 10 A 10168/03 -, NVwZ 2004, 11 ff.: ferner BVerwG, Beschluss vom 29. April 2002 - 1 B 59/02 -, Buchholz, 402.240 § 53 AuslG Nr. 60, das a.a.O. diesen rechtlichen Ansatz ausdrücklich in Betracht zieht, mangels Entscheidungserheblichkeit im dortigen Falle jedoch nicht weiter erörtert) ist auf den vorliegenden Fall übertragbar, zumal sie von im wesentlichen gleichen tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht (prinzipielle Verfügbarkeit erforderlicher Medikamente, Belastung der Kranken mit den Kosten der medizinischen Versorgung wegen Fehlens einer staatlichen Krankengrundversorgung oder -versicherung, unzureichende oder fehlende finanzielle Leistungsfähigkeit der betroffenen Kranken als - gemäß UNHCR, Auskunft vom 2. August 2005, a.a.O., auch im Irak schon wegen hoher Arbeitslosigkeit und niedriger Löhne zu unterstellende - "häufige Erscheinung", d.h. ganze Bevölkerungskreise erfassendes Phänomen), wie sie auch der hier zu treffenden Entscheidung zugrunde zu legen sind. Damit ist einer der Fälle gegeben, in denen die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich ausgeschlossen ("gesperrt") sein soll.

Für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG nach Maßgabe dieser Rechtsprechung wäre indessen im Falle des Klägers zu 1) selbst dann kein Raum, wenn er tatsächlich - was deshalb dahingestellt bleiben kann - nach einer Abschiebung in sein Heimatland einer "extremen Gefahrenlage" ausgesetzt wäre, obwohl derzeit in Niedersachsen ein den Anforderungen des § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG genügender genereller Abschiebestopp zugunsten irakischer Staatsangehöriger (oder einzelner Gruppen von ihnen) nicht besteht. Dem stände entgegen, dass das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport gestützt auf einen Beschluss der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 7./8. Juli 2004 mit Schreiben vom 19. Juli 2004 an die Bezirksregierungen Braunschweig, Hannover und Weser-Ems ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass irakischen Staatsangehörigen weiterhin Duldungen für die Dauer von sechs Monaten zu erteilen seien, und eine diesen Zustand beendende Weisung bisher nicht ergangen, vielmehr die Beschlusslage vom 7./8. Juli 2004 durch weiteren Beschluss der Innenminister in ihrer Sitzung vom 23./24. Juni 2005 nochmals bekräftigt worden ist.

Zwar ist diese Rechtsprechung insoweit nicht mehr aktuell, als inzwischen, mit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes, die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) nicht mehr lediglich mit einer von Gesetzes wegen (§ 41 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG a.F.) eintretenden Aussetzung der Abschiebung für die Dauer von zunächst drei Monaten verbunden ist, sondern gemäß § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nunmehr bewirkt, dass dem Ausländer sogar eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden "soll". Ferner liegt es auf der Hand, dass die hier in Rede stehende Erlasslage dem Kläger zu 1) eine so weitgehende Rechtsposition nicht zu vermitteln vermag. Dessen bedarf es jedoch auch nicht. Ausreichend für einen Ausschluss der Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG ist es vielmehr, dass der Kläger zu 1) aufgrund dieser Erlasslage im Ergebnis jedenfalls so gestellt ist wie er (günstigstenfalls) gestellt wäre, wenn die oberste Landesbehörde von der Möglichkeit der Verhängung eines allgemeinen Abschiebestopps gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Gebrauch gemacht hätte. Denn mit ihm hätte eine Aussetzung von Abschiebungen ebenfalls nur für die Dauer von sechs Monaten erfolgen können, wobei diese Aussetzung - anders als die jetzt zu erteilende Duldung - sich nicht zwingend auf sechs Monate hätte erstrecken müssen, sondern "längstens" für diese Dauer hätte vorgesehen werden können. Damit liegt jedenfalls eine "Gleichwertigkeit" des Abschiebungsschutzes im Sinne der zitierten Rechtsprechung vor.

Entfällt der ihm vorrangig gewährte ausländerrechtliche Schutz nach niedersächsischer Erlasslage und besteht kein anderweitiger gleichwertiger Abschiebungsschutz, so kann der Kläger zu 1) daher jederzeit beim Bundesamt geltend machen, dass eine neue Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG entstanden und deshalb erneut über seinen Antrag im Wege des Wiederaufgreifens zu entscheiden ist. Dabei gelten, wie das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden hat, nicht die strengeren Maßstäbe für Asylfolgeanträge nach § 71 AsylVfG (vgl. Urteil vom 21. März 2000 - BVerwG 9 C 41.99 -, BVerwGE 111, 77; Urteil vom 7. September 1999 - BVerwG 1 C 6.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 20 = NVwZ 2000, 907 = DVBl. 2000, 1279). Bis zu einer Entscheidung des Bundesamtes über einen solchen Wiederaufgreifensantrag darf die Abschiebung nur vollzogen werden, wenn dem Kläger zu 1) zuvor Gelegenheit zur Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen (Eil-) Rechtsschutzes gegeben worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 1999 - BVerwG 9 C 4.99 -, BVerwGE 110, 74, 80 f.).

Darüber hinaus steht den Klägern ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aber auch nicht etwa deshalb zu, weil sie nach einer jetzigen Rückkehr in ihr Heimatland u.a. wegen ihres - die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder eine sonstige Einkommenserzielung ggf. erschwerenden oder ausschließenden - fortgeschrittenen Alters und derzeitigen Gesundheitszustandes und ferner, zumal sie schon vor ihrer Ausreise ihr Haus in Suleimaniya veräußert und den Veräußerungserlös im wesentlichen für die Ausreise verbraucht haben wollen, wegen künftiger weitgehender Mittellosigkeit möglicherweise in ihrem Heimatland in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet wären.