VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 13.10.2006 - unbekannt - asyl.net: M9021
https://www.asyl.net/rsdb/M9021
Leitsatz:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Jesiden, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, religiös motivierte Verfolgung, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Nordirak
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Die Kläger besitzt einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des - zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts geltenden - § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind.

a) Der Berichterstatter hat die volle richterliche Überzeugung erlangt, dass der Kläger irakischer Staatsangehöriger aus dem (ehemaligen) Zentralirak yezidischer Religionszugehörigkeit ist.

b) Die yezidische Minderheit im Irak ist nach Überzeugung des Berichterstatters derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen, die auf ihre Religion abzielen, ausgesetzt.

Während schiitische Muslime seit dem Sturz des ehemaligen Regimes ihren Glauben nunmehr weitgehend offen und ohne nennenswerte Einschränkungen praktizieren können, hat sich die Situation von Angehörigen aller nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften seit dem Einmarsch der Koalitionstruppen und dem Sturz des Saddam-Regimes spürbar verschlechtert. Die Inanspruchnahme der zwar verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit ist für Nicht-Muslime in der alltäglichen Praxis mit erheblichen Risiken behaftet. Die Gefahr geht dabei nicht von staatlichen Stellen, sondern von der muslimischen Bevölkerung und islamistischen Gruppen aus.

Seit 2003 sind zahlreiche Anschläge und Übergriffe festzustellen. In den verwerteten Erkenntnismitteln ist allein in den letzten vier Monaten des Jahres 2004 von mindestens 20 Mordfällen und doppelt so vielen Gewaltakten gegen Yeziden die Rede (YF, a.a.O; der UNHCR geht in seiner Hintergrundinformation vom Oktober 2005 in diesem Zeitraum von 25 Morden und 50 sonstigen Gewaltverbrechen aus). Aus den genannten Auskünften geht hervor, dass sich die geschilderten Übergriffe fast ausnahmslos im Hauptsiedlungsgebiet der Yeziden, also in der Gegend von Mosul, dem Sheikhan-Gebiet und der Sinjar-Region ereigneten, einer Gegend, die in Folge früherer Vertreibungen und Enteignungen im Zusammenhang mit der dort betriebenen Arabisierungspolitik Saddam Husseins unter besonders schweren ethnisch-religiöse Spannungen zu leiden hat.

Angesichts der großen Zahl der bekannt gewordenen Straftaten gegen Yeziden allein in den letzten drei Monaten des Jahres 2004 und der zugleich aufgetretenen öffentlichen Gewaltaufrufe sowie der Feststellung des Deutschen Orient-Instituts, im Jahr 2006 habe sich die Lage für kleine religiöse Minderheiten im Irak noch verschlechtert (Ausk. v. 1.6.2006 an VG Düsseldorf), vertritt der Berichterstatter im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung seiner Kammer (vgl. etwa Urt. v. 3.8.2006 - A 9 K 887/06 -) und jener anderer Kammern des Verwaltungsgerichts Stuttgart (vgl. nur Urt. v. 14.9.2006 - A 13 K 13416/05 -), dass jedenfalls die aus dem beschriebenen Hauptsiedlungsgebiet stammenden Yeziden dort derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr ausgesetzt sind, Opfer der geschilderten Übergriffe zu werden, die an die Religionszugehörigkeit der Betroffenen anknüpfen (a. A. allerdings VG Sigmaringen, Urt. v. 22.3.2005 - A 3 K 12598/03 -; VG Trier, Urt. v. 9.3.2006 - 6 K 1216/05.TR -).

c) Muss der Kläger somit bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an seine yezidische Religion anknüpfende Verfolgung durch muslimische Mitbürger befürchten, ist eine Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG gleichwohl nur zu treffen, wenn der Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Den verwerteten Erkenntnisquellen (vgl. oben b)) ist aber zu entnehmen, dass weder die Koalitionstruppen noch die irakische Regierung in der Lage sind, Yeziden oder sonstige Einwohner des Irak vor den Attentaten und sonstigen Verbrechen hinreichend zu schützen.

d) Yeziden aus dem ehemaligen Zentralirak - wie der aus Mosul stammende Kläger - haben im Nordirak regelmäßig auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Zwar wird in den verwerteten Gutachten übereinstimmend geschildert, dass die Sicherheitslage insgesamt und auch für Yeziden in den kurdischen Autonomiegebieten günstiger sei als in dem übrigen Gebiet des Irak. Die meisten Gutachter gehen aber davon aus, dass ein menschenwürdiges Auskommen nur für solche Yeziden im Autonomiegebiet gewährleistet ist, die dort über familiäre Kontakte verfügten. Für Personen ohne tragfähige Kontakte bestünden erhebliche Schwierigkeiten, für sich - und gegebenenfalls die Familie - das Existenzminimum zu sichern (vgl. etwa DOI, Ausk. v. 12.9.2005 an VG Osnabrück; UNHCR, Ausk. v. 6.9.2005 an VG Stuttgart hinsichtlich einer Fluchtalternative für Christen). Gegenüber einer religiösen Minderheit ist die Bereitschaft, einen Arbeitsplatz oder Unterstützungsleistungen zu gewähren, nochmals gemindert. Der Kläger gehört nach seinen glaubhaften Angaben auch nicht zu den Yeziden aus dem ehemaligen Zentralirak, deren Verwandte in den kurdischen Autonomiegebieten leben.