OLG Hamm

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Zitieren als:
OLG Hamm, Beschluss vom 06.11.2006 - 15 W 299/06 - asyl.net: M9022
https://www.asyl.net/rsdb/M9022
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Sicherungshaft, Ermessen, Verhältnismäßigkeit, Sachaufklärungspflicht, Anhörung, Entziehungsabsicht, freiwillige Ausreise, Kosten, Kostenerstattung, Kostenrecht
Normen: FGG § 27 Abs. 1; AufenthG § 62 Abs. 2 S. 2; FEVG § 5 Abs. 1; FGG § 12; FEVG § 16; FGG § 13a Abs. 1 S. 1
Auszüge:

In der Sache ist das Rechtsmittel begründet, weil die Vorinstanzen, das Landgericht auf der Grundlage einer zulässigen ersten sofortigen Beschwerde, die Haftvoraussetzungen rechtsfehlerhaft bejaht haben, § 27 Abs. 1 FGG.

Zutreffend haben die Vorinstanzen angenommen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG vorlagen.

Über diese Tatbestandsvoraussetzungen hinaus ist Anordnung der Haft in § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG durch das Wort "kann" in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt. Diese Ermessensausübung hat unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgebots im Hinblick auf den Eingriff in die persönliche Freiheit des Betroffenen unter Abwägung mit dem Zweck der gesetzlichen Vorschrift zu erfolgen, im Allgemeininteresse eine zügige Durchführung der vollziehbaren Abschiebung des Betroffenen zu sichern (Senat FGPrax 2004, 53 = NVwZ-RR 2004, 303; OLG München, Beschluss v. 6.7.2006 - 34 Wx 87/06, bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang). Die tatrichterliche Entscheidung muss die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe erkennen lassen. Das Rechtsbeschwerdegericht kann zwar nicht die sachliche Richtigkeit der tatrichterlichen Ermessensentscheidung nachprüfen. Zu überprüfen ist jedoch, ob der Tatrichter ein Ermessen überhaupt ausgeübt oder die Notwendigkeit dazu verkannt hat (OLG München, a.a.O.).

Den Begründungen der Entscheidung der Vorinstanzen lassen sich jedoch keine hinreichenden Erwägungen zur Ausübung dieses Ermessens entnehmen. Die Vorinstanzen haben auch keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen zu den für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Umständen getroffen, so dass es dem Senat auch nicht möglich ist, ausnahmsweise im Rahmen des Rechtsbeschwerdeverfahrens eine eigene Ermessensausübung vorzunehmen (vgl. dazu Keidel/Meyer-Holz, FG, 15. Aufl., § 27 Rn. 56).

Welche Erwägungen für diese Ermessensentscheidung maßgebend sein können, kann nicht allgemein, sondern nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles bestimmt werden. Der Senat hält aus den Gründen seiner Entscheidung vom 02.12.2004 (FGPrax 2005, 90) an seiner Auffassung fest, dass die Anordnung der kleinen Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG nicht die positive Feststellung voraussetzt, dass konkrete Anhaltspunkte für eine Entziehungsabsicht des Betroffenen bestehen. Aus denselben Gründen hält es der Senat für bedenklich, wenn in der Rechtsprechung teilweise die Anordnung der kleinen Sicherungshaft davon abhängig gemacht wird, es müsse zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Absicht des Betroffenen festgestellt werden können, den Vollzug der Abschiebung zu erschweren oder zu vereiteln (OLG Hamburg, Beschl. v. 03.02.2004 - 2 Wx 128/02; OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.04.2006 - 13 W 63/05; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.06.2006 - 1-3 Wx 106/06, sämtlich bei Melchior, Abschiebungshaft, Anhang Rechtsprechung). Andererseits kann die Ermessensentscheidung nicht sachgerecht getroffen werden, ohne das bisherige Gesamtverhalten des Betroffenen in die Abwägung einzubeziehen. Denn es geht im entscheidenden Punkt darum, ob erwartet werden kann, dass der Betroffene zum Vollzug der bevorstehenden Abschiebung tatsächlich zur Verfügung stehen wird. So stünde es beispielsweise mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang, die kleine Sicherungshaft gegenüber einem Betroffenen anzuordnen, der aus tatsächlichen Gründen nicht selbst ausreisen kann, im Übrigen aber seinen ausländerrechtlichen Verpflichtungen vollständig nachgekommen ist und ordnungsgemäß in der ihm zugewiesenen Unterkunft wohnt (so auch aus der Sicht des Senats zutreffend OLG Oldenburg a.a.O.). Durch die gerichtliche Ermessensentscheidung muss insbesondere ausgeschlossen werden, dass die Haft bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG pauschal angeordnet wird und die Haft auf diese Weise in erster Linie der Erleichterung des tatsächlichen Vollzugs der Abschiebung dienen könnte. Umgekehrt kann etwa ein ausländerrechtlich inkorrektes Verhalten des Betroffenen (beispielhaft Einreise mittels Schlepperorganisation unter Weggabe der Personalpapiere, zögerliche Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten) die nahe liegende Gefahr begründen, dass er auch den letzten Schritt gehen könnte, sich so einzurichten, dass er am Tage der ankündigten Abschiebung nicht zur Verfügung steht. Im Rahmen der Würdigung des Gesamtverhaltens des Betroffenen ist dann auch zu bewerten, ob eine erklärte Verweigerung der Ausreise für das Vorliegen einer solchen Gefahr spricht. In diesem Zusammenhang ist das Ergebnis der nach § 5 Abs. 1 FEVG durchzuführenden persönlichen Anhörung des Betroffenen von tragender Bedeutung. Gegenüber diesen sich aus der Person des Betroffenen ergebenden Gesichtspunkten muss das staatliche Interesse an dem Vollzug der Abschiebung (etwa Umfang und Dauer der Vorbereitung der bevorstehenden Abschiebung und deren Kostenaufwand, beschränkter Gültigkeitszeitraum der beschafften Heimreisepapiere) abgewogen werden (OLG München, Beschl. v. 06.07.2006 - 34 Wx 87/06 - bei Melchior s.o.).

Die für diese Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Gesichtspunkte sind vom Gericht gem. § 12 FGG von Amts wegen zu ermitteln. Es obliegt der Ausländerbehörde, mit der Begründung des Haftanordnungsantrages diejenigen tatsächlichen Anknüpfungspunkte vorzubringen, die dem Gericht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen insbesondere im Zusammenhang mit der persönlichen Anhörung des Betroffenen ermöglichen.

Den vorgenannten Anforderungen genügen die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht. Der amtsgerichtlichen Entscheidung lässt sich schon nicht entnehmen, ob das Amtsgericht sich seines Ermessensspielraums überhaupt bewusst war.

Das Landgericht hat mit seiner Entscheidung maßgeblich darauf abgestellt, dass die Betroffene die ihr eingeräumte Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise nicht genutzt habe. Dies zeigt zwar einen Gesichtspunkt auf, der in die notwendige Abwägung einfließen kann, schöpft den vorliegenden Sachverhalt jedoch nicht hinreichend aus.

Die Erstattung außergerichtlicher Kosten war nicht anzuordnen. Über die Anordnung der Erstattung außergerichtlicher Kosten des Betroffenen ist nach § 16 FEVG zu entscheiden. Danach hat das Gericht, wenn es den Antrag der Verwaltungsbehörde auf Anordnung der Freiheitsentziehung ablehnt, zugleich die Auslagen des Betroffenen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, der Gebietskörperschaft aufzuerlegen, der die Verwaltungsbehörde angehört, wenn das Verfahren ergeben hat, dass ein begründeter Anlass zur Stellung des Antrages nicht vorlag. Die Vorschrift findet im Falle der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung entsprechende Anwendung.

Ob ein begründeter Anlass zur Antragstellung vorgelegen hat, ist dabei nach dem Sachverhalt zu beurteilen, der von der Behörde zur Zeit der Antragstellung unter Ausnutzung aller ihr nach den Umständen des Einzelfalls zumutbaren Erkenntnisquellen festgestellt werden konnte; ein schuldhaftes Verhalten von Verwaltungsbediensteten wird nicht vorausgesetzt (vgl. Senat, Beschluss v. 14.12.2005 - 15 W 381/05 -).

Nach diesem Prüfungsmaßstab hat eine Erstattungsanordnung zu unterbleiben. Wie festgestellt, lagen zum Zeitpunkt der Antragstellung die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 S. 2 AufenthG vor. Die Begründung des Antrags lässt mit dem Hinweis, die Betroffene habe auch noch am 09.08.2006 verlauten lassen, sie sei nicht bereit in ihr Heimatland zurückzukehren, im Ansatz ein bei der Ermessensentscheidung verwertbares Element erkennen (vgl. oben). Zudem waren durch den Beteiligten zu 2) mit der Instrumentalisierung der vagen Heiratspläne der Betroffenen und ihres Wegzugs nach Hagen weitere Umstände aufgezeigt, die jedenfalls der weiteren tatsächlichen Aufklärung bedurften, um ihre Relevanz für die Ausübung des Ermessens beurteilen zu können. Hätte die gerichtliche Ermessensentscheidung entsprechend den obigen Ausführungen danach auch in einem größeren Rahmen das Gesamtverhalten der Betroffenen berücksichtigen müssen, wozu insbesondere auch weitere Feststellungen erforderlich gewesen wären, so wäre es in erster Linie Sache des Gerichts gewesen, im Rahmen der Amtsermittlungspflicht solche Tatsachen in das Verfahren einzuführen.

Die Anordnung der Kostenerstattung kann auch nicht auf § 13a Abs. l S.1 FGG gestützt werden. Der Senat hält insoweit an seiner Auffassung fest, dass § 16 FEVG als lex specialis die Vorschrift des § 13a FGG auch in dem vorliegenden Zusammenhang verdrängt. Selbst wenn man dies jedoch anders sehen wollte, käme eine Kostenerstattung nicht in Betracht. Es ist nämlich ersichtlich kein Gebot der Billigkeit, die Verwaltungskörperschaft der Ausländerbehörde mit Kosten zu belasten, wenn das gerichtliche Verfahren zu keinen eindeutigen Feststellungen hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen der Haft geführt hat und dies nicht auf einem Fehlverhalten der Behörde beruht.