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VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 13.11.2006 - 2 E 377/06.A(2) - asyl.net: M9049
https://www.asyl.net/rsdb/M9049
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr der Verfolgung von Hindus in Afghanistan.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Akteure, Verfolgungsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, religiös motivierte Verfolgung, Schutzfähigkeit, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 6
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr der Verfolgung von Hindus in Afghanistan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben einen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Die Neuregelung des § 60 Abs. 1 AufenthG dient der teilweisen Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. "Qualifikationsrichtlinie", ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.). Mit der Qualifikationsrichtlinie legt der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage des Art. 63 Abs. 1 EG Mindestnormen für die Anerkennung von Flüchtlingen fest. Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 lit. C, Art. 6-8 von dem der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zugrundeliegenden Flüchtlingsbegriff im Sinne der sog. "Schutztheorie" und nicht von dem bisherigen deutschen Begriff der "politischen Verfolgung" aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.). Die Neuregelung des § 60 Abs. 1 AufenthG führt daher zu einer Anpassung des deutschen Rechts an die internationale Staatenpraxis (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 91). Für die Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG ist daher der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 GFK maßgebend. Dies stellt einen Perspektivwechsel von der an die politische Verfolgung anknüpfenden Zurechnungslehre zur opferbezogenen Schutzlehre dar. Damit geht der Begriff der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16 a GG hinaus mit der Folge, dass die vom Bundesverwaltungsgericht (vgl. U. vom 18.01.1994 - 9 C 48/92 -, BVerwGE 95, 42) für § 51 Abs. 1 AuslG proklamierte Identität zwischen dem Begriff "politische Verfolgung" und den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG im Bereich des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr gilt. Dementsprechend wird in § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG im Unterschied zum bisherigen § 51 Abs. 1 AuslG ausdrücklich auf die Genfer Flüchtlingskonvention Bezug genommen, wobei die Bezugnahme so zu verstehen ist, dass sie aus dem Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.01.1967 (BGBl. II 1967 S. 1293 - innerstaatlich am 14.04.1970 in Kraft getreten) umfasst. Denn durch den Beitritt zum Protokoll von 1967 verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland, die wesentlichen Bestimmungen des Abkommens von 1951 auf Flüchtlinge gemäß der in dem Abkommen enthaltenen Definition ohne die zeitliche Begrenzung auf das Jahr 1951 anzuwenden.

Mit der Einführung des § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG hat der Gesetzgeber auch den Kreis der Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, an die Qualifikationsrichtlinie angepasst (vgl. vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004m, Ziff. 60.1.4; siehe auch Renner, ZAR 2004, 266 ff. (269); Duchrow, ZAR 2004, S. 339 ff. (349); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005. § 7 Rdnr. 73).

Danach kann Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG ausgehen von dem Staat (a), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (b) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Demzufolge kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, so dass die von der bisherigen Zurechnungslehre (vgl. BVerwG, U. v. 15.04.1997 - 9 C 15/96 - BVerwG 104, 254) geforderte grundsätzliche Anknüpfung an staatliche Verantwortung für Verfolgung ("mittelbare staatliche Verfolgung") im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr erforderlich ist (vgl. VG Stuttgart, U. v. 31.01.2005 - 10 K 13484 -; VG Karlsruhe, U. v. 28.04.2005 - A 2 K 12160/03).

Nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 4 lit. C AufenthG können Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch Einzelpersonen sein, von denen eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG ausgeht.

Das erkennende Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern als Angehörigen der Minderheit der Hindus in Afghanistan Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG seitens nichtstaatlicher Akteure droht, gegen deren Aktivitäten die amtierende Regierung ebenso wenig effektiven Schutz zu bieten vermag wie die vor Ort tätigen internationalen Organisationen und Streitkräfte.

Das Gericht verkennt dabei nicht, dass seitens der amtierenden Regierung Karsai durchaus Bestrebungen bestehen, die Situation der wenigen noch im Land lebenden Hindus zu verbessern. Jedoch fehlt es daran, dass die Regierung Karsai im Wesentlichen nicht dazu in der Lage ist selbst in den von ihnen kontrollierten Gebieten den Klägern effektiven Schutz zu bieten. Wie sich aus dem Gutachten des Dr. Mustafa Danesch vom13.01.2006 ergibt, leben im heutigen Afghanistan nur noch ca. 1.500 bis 2.000 Hindus und Siks. In Kabul dürften es etwa 1.000 bis 1.300 sein. Hindus und Siks sind in ihrer Religionsausübung und kulturellen Identität in einem erheblichen Ausmaß eingeschränkt. Ihre Existenz als eigenständige Minderheit ist akut bedroht. In vielerlei Hinsicht, z.B. wenn es um die Zurückerstattung enteigneten Besitzes, das Verbot religiöser Zeremonien, die Verweigerung der Unterstützung der Gemeinden in ihren Bildungsbestrebungen, Zwangsbekehrungen mit Rückendeckung der staatlichen Justiz usw. geht, erweist sich auch die Regierung Karsai als unfähig oder nicht willens, effektiven Schutz zu gewähren. Soweit sich die Beklagte darauf bezieht, dass im Jahre 2005 mehrere religiöse Fest in Kabul gefeiert werden konnten und die Regierung Karsai Anstrengungen zum Wiederaufbau zerstörter Tempel bzw. die Wiederherstellung von Verbrennungsstätten der Hindus und Siks unterstützt habe, vermag dies den Gesamteindruck nicht zu relativieren, dass Hindus willkürlich Übergriffen der muslimischen Bevölkgerungsmehrheit, insbesondere von religiösen Fanatikern schutzlos ausgesetzt sind.

Wie sich aus dem Gutachten des Dr. Danesch ergibt, welches das Gericht für in jeder Hinsicht für nachvollziehbar erachtet, wird seitens der Regierung Karsai nicht nur kein effektiver Schutz gewährt, sondern es lassen sich auch vereinzelte Beispiele der Beteiligung staatlicher Aktivisten an Verfolgungsmaßnahmen nachweisen. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass die Lebensbedingungen, unter denen Hindus und Siks in ihren ehemaligen Tempeln leben, als so katastrophal anzusehen sind, dass eine Abschiebung mit erheblichen Gefahren für die Betroffenen für Leib, Leben und Freiheit verbunden wäre. Sind Hindus bereits traditionell in afghanischer Gesellschaft, die stark islamisch-fundamentalistisch geprägt ist, Diskriminierungen wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit ausgesetzt, so müssen Rückkehrer aus Europa und anderen westlichen Ländern erst recht mit besonderen Schwierigkeiten rechnen. Vor der Machtübernahme der Mudjaheddin ist es den hinduistischen Gemeinden gelungen, auf Grund ihrer Finanzkraft ihre kulturelle Eigenständigkeit zu wahren. Diejenigen Hindus, die nunmehr noch in Afghanistan leben, gehören jedoch zu denjenigen, die auf Grund ihrer finanziellen Verhältnisse es sich nicht leisten konnten, das Land zu verlassen. Diejenigen, die das Land verlassen haben, gehörten ehemals zu den finanziell besser gestellten Personenkreisen. Durch die Flucht aus Afghanistan haben sie ihre ehemalige Existenzgrundlage im Lande verloren. Arbeitsmöglichkeiten für Hindus existieren, wie auch die Beklagte in ihren schriftsätzlichen Ausführungen konzedieren muss, kaum. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die im Lande verbliebenen Hindu-Gemeinden weder bereit noch in der Lage sind, Rückkehrer aus Europa aufzunehmen, die nach ihren Kategorien als "reich" einzustufen sind.

Dies alles zusammengenommen führt dazu, dass den Klägern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zuzubilligen ist.