OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 29.06.2006 - 3 Q 2/06, 2 Q 9/05 - asyl.net: M9097
https://www.asyl.net/rsdb/M9097
Leitsatz:
Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, interne Fluchtalternative, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Versorgungslage, allgemeine Gefahr, Dagestan, Kumyken, Existenzminimum, Freizügigkeit, Registrierung, Moslems, Wahabiten
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Das Vorbringen der Kläger in der Begründung ihres Zulassungsantrages, das den gerichtlichen Prüfungsumfang in dem vorliegenden Verfahren begrenzt, rechtfertigt nicht die erstrebte Berufungszulassung wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG).

Soweit die Kläger unter Hinweis auf nicht näher bezeichnete Stellungnahmen der Gesellschaft für bedrohte Völker bezüglich des Tschetschenienkonflikts und den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.3.2004 zu Willkür, unmenschlicher Behandlung und Folter gegen bestimmte Minderheiten und nationale Gruppen durch Behörden und Sicherheitskräfte - pauschal - die Frage als grundsätzlich bedeutsam bezeichnen, ob kumykischen Volkszugehörigen außerhalb Dagestans in der russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative offensteht, bestehen bereits Bedenken, ob damit dem Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügt ist.

Die aufgeworfene Frage lässt sich aber auch anhand der aktuellen Erkenntnislage beantworten. So ist zu der Minderheit der tschetschenischen Volksgruppe in der Russischen Föderation unter eingehender und überzeugender Würdigung der vorhandenen Erkenntnisquellen in der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes geklärt (hierzu Entscheidungen des 2. Senats vom 23.6.2005 2 R 4/04 -, 2 R 17/03 -, - 2 R 16/03 - und - 2 R 11/03 sowie vom 21.4.2005 2 Q 46/04 -; sich hieran anschließend Beschluss des 3. Senats vom 29.5.2006 3 Q 1/06 -; siehe auch die zu 2 R 16/03 und 2 R 11/03 ergangenen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.5.2006 1 B 100.05 und 1 B 101.05 -), dass eine landesweite Kollektivverfolgung aller tschetschenischen Volkszugehörigen im (gesamten) Staatsgebiet der Russischen Föderation bei Anlegung der hierzu in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten strengen Maßstäbe ungeachtet der sich im Gefolge von Terroranschlägen in der jüngeren Vergangenheit verschärfenden Spannungen und Vorbehalte nicht festgestellt werden kann.

Selbst bei Anlegung des in der Rechtsprechung für die Fälle der so genannten Vorverfolgung im Heimatland entwickelten herabgestuften Prognosemaßstabs für die Feststellung einer Rückkehrgefährdung steht nach der o.g. Rechtsprechung den aus Tschetschenien stammenden Bürgern der Russischen Föderation russischer Volkzugehörigkeit aber auch ethnischen Tschetschenen in anderen Regionen der Russischen Föderation eine auch unter wirtschaftlichen Aspekten zumutbare für die Betroffenen tatsächlich erreichbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Auch die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthaltsG können danach nicht angenommen werden. Insoweit ist, was die Geltendmachung einer Gefährdung durch die allgemeine wirtschaftliche Versorgungslage angeht, zusätzlich die vom Bundesgesetzgeber beibehaltene Sperrwirkung nach den §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a AufenthaltsG für die Berücksichtigungsfähigkeit von so genannten Allgemeingefahren für die Bevölkerung oder auch nur Bevölkerungsgruppen im Herkunftsstaat zu beachten.

Diese Grundsätze lassen sich, da auch nach entsprechend auszulegendem klägerischen Vortrag eine Gefährdungssituation im Zusammenhang mit dem (1999 begonnenen) Versuch eines Hineintragens des Tschetschenienkonflikts in das Herkunftsland der Kläger Dagestan zu beurteilen ist, auf kumykische Volkszugehörige übertragen, die gleichfalls Angehörige einer kaukasischen Minderheit sind (siehe in diesem Zusammenhang den o.g Beschluss des 2. Senats des OVG des Saarlandes vom 21.4.2005, a.a.O.).

Aus den erstinstanzlich verwerteten Auskünften des Auswärtigen Amtes an VG Göttingen vom 11.4.2003 508 - 516.80 /41035 - und des VG Braunschweig vom 13.4.2004 - 508-516.80/42358 - ergibt sich, dass Kumyken, die ca. 13 % der Bevölkerung in Dagestan darstellen, zwar in politischer Opposition zur Machtelite in Dagestan stehen, die von den beiden größten Volksgruppen Awaren (27,5 %) und Darginen bzw. Dargynzen (15,6 %) gebildet wird. Ethnische Konflikte sind daher nicht auszuschließen. Informationen über konkrete Verfolgungsmaßnahmen durch regionale oder föderale Behörden in Anknüpfung an die kumykische Volkszugehörigkeit sind hingegen nicht bekannt. Binnenflüchtlinge kumykischer Volkszugehörigkeit können sich auch außerhalb Dagestans in der Russischen Föderation registrieren lassen. Zwangsweise Rückführungen nach Dagestan erfolgen nach der Erkenntnislage nicht. Zwar kann weiter nicht ausgeschlossen werden, dass kaukasisch aussehende Personen in der Russischen Föderation diskriminierenden Praktiken wie häufigen Personenkontrollen unterworfen werden. Erkenntnisse, dass derartige oder sonstige Maßnahmen einen asylerheblichen oder i.S. d. § 60 AufenthG relevanten Umfang erreichten, liegen nicht vor.

Kumykische Volkszugehörige können dennoch im russischen Kernland ein Existenzminimum erwirtschaften in Abhängigkeit von Bildungsstand, beruflicher Qualifikation, Alter, sozialem Umfeld u.a.

Diese Einschätzung über eine zumutbare Fluchtalternative für Kumyken innerhalb der Russischen Föderation wird bestätigt durch den jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15.2.2006 (Stand: Dezember 2005) 508-516.80/3 RUS -.

Dafür, dass kumykischen Volkszugehörigen aus Dagestan nunmehr eine Wohnsitznahme außerhalb Dagestans in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht mehr möglich sein sollte, gibt es keine durchgreifenden Erkenntnisse.

Hieraus folgt zugleich, dass auch die weiter als grundsätzlich bedeutsam aufgezeigte Frage, ob sog. Wahabiten als Gruppe verfolgt werden, nicht entscheidungserheblich ist, denn das Verwaltungsgericht hat die wegen des nach Aussage der Kläger vor dem Bundesamt kurzzeitigen Bekenntnisses zum Wahabitentum im Jahr 1999 erfolgte fünfmonatige Festnahme mangels Kausalzusammenhang zur Flucht im Mai 2004 als verfolgungsirrelevant angesehen und die Kläger wegen angeblicher weiterer kurzzeitiger (bis zu 2 Tagen) Inhaftierungen wegen ungerechtfertigter Vorwürfe durch örtliche Behörden auf die für Kumyken außerhalb Dagestans bestehende Fluchtalternativen verwiesen.

Ungeachtet dessen ist darauf hinzuweisen, dass nach dem o.g. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dem keine durchgreifenden gegenteiligen Erkenntnisse entgegenstehen, eine generelle Unterdrückung von Muslimen, die in der Russischen Föderation einen Bevölkerungsanteil von 10 bis 14 % (14 bis 20 Millionen) stellen, nicht stattfindet, wohl aber stärkere Kontrollmaßnahmen.

So werden häufig nordkaukasische Rebellen pauschal als Wahabiten bezeichnet. Außer einer (ständigen) Beobachtung wahabitischer Zellen durch die Geheimdienste und als drastischere Maßnahme die Schließung von Moscheen bis auf staatstreue in bestimmten Republiken wie Karbadino-Balkarien sind dem Auswärtigen Amt ersichtlich keine generellen Maßnahmen asylerheblicher Intensität bekannt geworden, die auf eine landesweite Gruppenverfolgung von Wahabiten schließen lassen.