VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 03.11.2006 - VG 1 X 34.03 - asyl.net: M9115
https://www.asyl.net/rsdb/M9115
Leitsatz:

Wurde für einen allein stehenden minderjährigen Äthniopier das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG festgestellt, weil er in Äthiopien keine Existenzgrundlage haben würde, rechtfertigen allein der Zeitablauf sowie der Abschluss der Hauptschule nicht den Widerruf dieser Feststellung.

 

Schlagwörter: Äthiopien, Widerruf, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, alleinstehende Minderjährige, Existenzminimum, Hauptschulabschluss, Schulabschluss
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Wurde für einen allein stehenden minderjährigen Äthniopier das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG festgestellt, weil er in Äthiopien keine Existenzgrundlage haben würde, rechtfertigen allein der Zeitablauf sowie der Abschluss der Hauptschule nicht den Widerruf dieser Feststellung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage des angefochtenen Widerrufsbescheides ist § 73 Abs. 3 AsylVfG, der gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG in der im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts gültigen Fassung des Zuwanderungsgesetzes anzuwenden ist. Danach ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 AuslG) vorliegen, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

Eine Änderung der Erkenntnislage oder deren abweichende Würdigung genügt nicht. Ausgehend von diesem auch für den Widerruf von Abschiebungshindernissen gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG geltenden Maßstäben war der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses hier nicht gerechtfertigt, weil eine nachträgliche erhebliche Änderung der Sachlage nicht eingetreten ist. Der Kläger ist zwar mittlerweile über 24 Jahre alt, und er hat den erweiterten Hauptschulabschluss abgelegt. Nach wie vor verfügt er jedoch über keine "besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten, die es ihm erlauben könnten, sich unter den schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen Äthiopiens eine bescheidene Existenz selbst aufzubauen", was Grundlage für die Anerkennung eines Abschiebungshindernisses im Bescheid vom 2. April 1996 war. Eine mehr als vorübergehend tragfähige Existenzgrundlage hat sich der Kläger hier nicht schaffen können. Er lebte und lebt - bis auf einen Zeitraum von etwas über einem Jahr - von Sozialleistungen. Zur Gründung einer eigenen selbständigen Existenz hat er weder die Mittel, noch erscheint er hierzu aufgrund der von ihm nachvollziehbar vorgetragenen Umstände - Alkoholproblem, psychische Beeinträchtigungen aufgrund des Selbstmords seines Bruders - persönlich in der Lage. Allein die seit dem von der Beklagten widerrufenen Bescheid verstrichene Zeit, der Erwerb des erweiterten Hauptschulabschlusses und deutscher Sprachkenntnisse reicht aus der Sicht des Gerichts nicht aus, eine wesentliche Änderung der Sachlage in Bezug auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG (§ 60 Abs. 7 AufenthG) anzunehmen.

Der Widerruf der Anerkennung eines Abschiebungshindernisses kann auch nicht in dessen Rücknahme wegen Fehlerhaftigkeit der Anerkennung eines Abschiebungshindernisses umgedeutet werden. Zwar ist eine solche Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG in den Fällen des § 73 Abs. 3 AsylVfG grundsätzlich möglich, da in beiden Fällen eine gebundene Entscheidung und keine Ermessensentscheidung zu fällen ist und beide Entscheidungen ex nunc wirken (Renner, Ausländerrecht, B. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG Rdnr. 26). Auch die Rücknahmevoraussetzungen sind indes in Bezug auf den Bescheid vom 2. April 1996 nicht gegeben. Der Bescheid war rechtmäßig. Er gibt die vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung (zuletzt Urteil vom 11. März 2003 - 9 UE 1358/00.A - JURIS) entwickelten rechtlichen Maßstäbe zur Anerkennung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG /§ 60 Abs. 7 AufenthG in den Fällen äthiopischer Flüchtlinge wieder, die in ihrer Heimat keinen familiären Rückhalt haben, über keine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen und deshalb bei einer Rückkehr nach Äthiopien voraussichtlich keine Existenzgrundlage haben werden.