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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 05.09.2006 - 1 C 20.05 - asyl.net: M9183
https://www.asyl.net/rsdb/M9183
Leitsatz:

1. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt.

2. Es kann offenbleiben, ob und ggf. welche verfassungsrechtlichen Grenzen für die Rückgängigmachung des gesetzlichen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Kindes durch rückwirkende Aufhebung des Aufenthaltstitels des Elternteils bestehen.

 

Schlagwörter: D (A), Rücknahme, Aufenthaltserlaubnis, Juden, Kontingentflüchtlinge, Rückwirkung, Falschangaben, Fälschung, Geburtsurkunde, Ermessen, Begründung, Ermessensfehler, Familienangehörige, Staatsangehörigkeit, deutsche Staatsangehörigkeit, Verlust, Staatsangehörigkeitserwerb durch Geburt im Inland, Nachschieben von Gründen
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1 S. 1; VwVfG § 39 Abs. 1; StAG § 4 Abs. 3 S. 1; VwGO § 114 S. 2
Auszüge:

1. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt.

2. Es kann offenbleiben, ob und ggf. welche verfassungsrechtlichen Grenzen für die Rückgängigmachung des gesetzlichen Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Kindes durch rückwirkende Aufhebung des Aufenthaltstitels des Elternteils bestehen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Rechtsgrundlage für die angefochtene Rücknahme der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bildet § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG (vgl. § 1 Abs. 1 BlnVwVfG).

a) Die zurückgenommene unbefristete Aufenthaltserlaubnis wurde der Klägerin in dem besonderen Verfahren der Aufnahme jüdischer Emigranten aus der früheren Sowjetunion erteilt. Dieses Verfahren geht auf einen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 zurück und beruhte im Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis auf einer entsprechenden Anwendung des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 (BGBl I S. 1057) in der Fassung vom 9. Juli 1990 (BGBl I S. 1384) - HumHAG - in Verbindung mit der Weisung Nr. 63 des Landeseinwohneramtes Berlin in der Fassung vom 24. Juli 1992 (vgl. auch den Erlass des Auswärtigen Amtes vom 25. März 1997 - Gz.: 514-516.20/7). Die seit dem 1. Januar 2005 geltende neue Vorschrift des § 23 Abs. 2 AufenthG, die nunmehr der amtlichen Begründung (BTDrucks 15/420 S. 77 f.) zufolge einschlägig ist, ist hier noch nicht anwendbar.

Diese der Klägerin erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis war rechtswidrig, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG gegeben sind. Die im Jahr 1992 getroffene Entscheidung über ihren Aufenthalt war fehlerhaft, weil ihr ein unrichtiger Sachverhalt zugrunde lag. Wie das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil ausgeführt hat, beruhte diese Entscheidung auf der unzutreffenden behördlichen Annahme, dass die zum Nachweis der jüdischen "Nationalität" vorgelegte Geburtsurkunde I der Klägerin inhaltlich richtig sei. Dies ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts jedoch nicht der Fall (UA S. 12).

b) Die Rücknahmeentscheidung erweist sich aber als rechtswidrig, weil der Beklagte das ihm nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat.

Der nach Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich garantierte gerichtliche Rechtsschutz setzt nach der Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Behörde offenbart, von welchen Gesichtspunkten sie sich bei der Ausübung des Ermessens hat leiten lassen. Diesem Zweck dient auch die Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten (§ 39 Abs. 1 VwVfG; vgl. Urteil vom 24. September 1996 - BVerwG 1 C 9.94 - BVerwGE 102, 63 <70> m.w.N.). Die Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis kann nur Bestand haben, wenn die Behörde die erforderliche Abwägung öffentlicher Interessen und schutzwürdiger privater Belange vorgenommen und dabei die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles berücksichtigt hat. Daran fehlt es hier. Der Umstand, dass die Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Aufenthaltserlaubnis durch falsche Angaben und die Vorlage einer unrichtigen Geburtsurkunde erschlichen hat, schließt zwar eine Berufung der Klägerin auf Vertrauensschutz aus (§ 48 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und 2 VwVfG), ändert aber nichts an dem Erfordernis einer derartigen Abwägung (vgl. Urteil vom 9. September 2003 - BVerwG 1 C 6.03 - BVerwGE 119, 17 <22 f.> für die Rücknahme der Einbürgerung). Ferner bestehen keine ermessenslenkenden Vorgaben, die für den hier gegebenen Fall der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis auf ein sogenanntes intendiertes Ermessen hinweisen (vgl. auch VGH Mannheim, Urteil vom 11. Januar 2006 - 13 S 2345/05 - juris = AuAS 2006, 149 <150 f.>). Das Berufungsgericht vertritt zu Unrecht die Auffassung, dass der Beklagte sein Rücknahmeermessen "noch hinreichend ausgeübt" hat (UA S. 14). Vielmehr ist dem angefochtenen Bescheid vom 22. Oktober 2001 nicht zu entnehmen, dass sich die Ausländerbehörde des Erfordernisses einer Ermessensentscheidung bei der Rücknahme auch einer erschlichenen Aufenthaltserlaubnis überhaupt bewusst war.

Insgesamt fehlt es an der notwendigen Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen und den schutzwürdigen privaten Belangen, namentlich auch im Hinblick auf den Kläger, den Sohn der Klägerin, mit dem sie dem angegriffenen Bescheid zufolge in familiärer Gemeinschaft lebt. Dieser hat durch seine Geburt im Inland im Jahr 2000 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG (in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 <BGBl I S. 1618>) die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, da die Klägerin im Zeitpunkt der Geburt auf Grund der ihr erteilten Aufenthaltstitel (seit April 1992 Aufenthaltsbefugnis und seit September 1992 unbefristete Aufenthaltserlaubnis) seit acht Jahren rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte und sie seit (mehr als) drei Jahren im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis war (vgl. auch Nr. 4.3.1.2 StAR-VwV vom 13. Dezember 2000 <BAnz 2001 Nr. 21 a>). Die Frage der Auswirkungen der Rücknahmeentscheidung auf die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers hätte die Behörde in ihre Ermessenserwägungen einstellen müssen. Dass die Behörde diese Problematik gar nicht vor Augen hatte, wird im Übrigen aus den Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid zum besonderen Ausweisungsschutz deutlich, bei denen sie irrtümlich von einer Einbürgerung des Klägers ausgeht und deren (zukünftige) Rücknahme erörtert.

Die Notwendigkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers zu berücksichtigen, ergibt sich daraus, dass der Beklagte - wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend ausgeführt hat - die Aufenthaltserlaubnis der Klägerin mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen hat. Dies wird in der Entscheidungsformel zwar nicht ausdrücklich angeordnet. Ein solcher ausdrücklicher Ausspruch ist aber auch nicht erforderlich (vgl. auch Urteil vom 12. April 2005 - BVerwG 1 C 9.04 - BVerwGE 123, 190 <202 f.>). Aus der Verneinung eines schutzwürdigen Vertrauens der Klägerin auf den Bestand der Aufenthaltserlaubnis (vgl. den Hinweis in der Entscheidungsformel auf § 48 Abs. 1 und 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 3 VwVfG) lässt sich ableiten, dass die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgen soll (vgl. die allerdings nicht unmittelbar anwendbare Regel des § 48 Abs. 2 Satz 4 VwVfG). Dafür spricht auch, dass die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach Ansicht der Behörde nie vorlagen (vgl. die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung; vgl. auch Nr. 43.0.2 der AuslG-VwV vom 28. Juni 2000 <BAnz Nr. 188 a>).

Dem Erfordernis von Ermessenserwägungen konnte hier auch nicht durch nachträglichen Vortrag in den Tatsacheninstanzen genügt werden. § 114 Satz 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen lediglich dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen dafür, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt (vgl. Beschluss vom 14. Januar 1999 - BVerwG 6 B 133.98 - NJW 1999, 2912; Urteil vom 5. Mai 1998 - BVerwG 1 C 17.97 - BVerwGE 106, 351 <365>). Davon ging der Senat auch im Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - (BVerwGE 121, 297 <310>) aus, in dem er lediglich für eine Ausnahmesituation - angesichts einer auf höherrangiges Gemeinschaftsrecht bezogenen Rechtsprechungsänderung - die vollständige Nachholung der nunmehr erforderlichen Ermessensentscheidung über die Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger innerhalb einer Übergangsfrist ermöglichte. Im vorliegenden Fall liegt keine solche Ausnahmesituation vor. Auch materielles Recht ermöglicht hier schließlich nicht die völlige Nachholung der erforderlichen Ermessenserwägungen.