OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.08.2006 - 19 B 1161/05 - asyl.net: M9199
https://www.asyl.net/rsdb/M9199
Leitsatz:
Schlagwörter: Staatsangehörigkeitsrecht, Einbürgerung, Ehegatte, Scheidung, Sorgerecht, gemeinsames Sorgerecht, Sorgerechtseinbürgerung
Normen: StAG § 9 Abs. 2; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Der Antragsgegner wendet sich ohne Erfolg gegen die Annahme der Vorinstanz, einem Sofortvollzug der Rücknahme der Einbürgerung des Antragstellers stehe entgegen, dass Überwiegendes dafür spreche, dass die Einbürgerung jedenfalls als Sorgerechtseinbürgerung nach § 9 Abs. 2 StAG rechtmäßig gewesen sei.

Dem Antragsteller steht gemeinsam mit seiner geschiedenen deutschen Ehefrau N. A. , geb. T. , die elterliche Sorge für das am 23. Mai 1999 geborene Kind N1. zu. Der Senat teilt die Auffassung der Vorinstanz, das Tatbestandsmerkmal "Sorge für die Person eines Kindes" in § 9 Abs. 2 StAG fordere nicht die alleinige Sorge des ausländischen Elternteils, sondern sei auch dann erfüllt, wenn dem ausländischen Elternteil die elterliche Sorge gemeinsam mit dem deutschen Elternteil zusteht (§ 1626 BGB) (ebenso Hessischer VGH, Urteil vom 15. März 2004 - 12 UE 1491/03 -, InfAuslR 2004, 354, Juris, Rdn. 23; Marx in GK-StAR, § 9, Rdn. 104; a. A. VG Gießen, Urteil vom 5. März 2003 - 10 E 4120/02 -, Juris, Rdn. 21; vgl. auch Hailbronner, in Hailbronner/Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, 4. Aufl. 2005, § 9 Rdn. 32).

Maßgebend für diese Rechtsprechung ist zunächst der eindeutige Wortlaut des § 9 Abs. 2 StAG, der nicht zwischen gemeinsamer und alleiniger elterlicher Sorge differenziert. Eine teleologische Reduktion dieser uneingeschränkten Wortfassung ist nicht möglich. Darauf liefe das Beschwerdevorbringen des Antragsgegners hinaus. Er hebt auf den Sinn und Zweck des § 9 Abs. 2 StAG ab, der das deutsche Kind lediglich dann schützen solle, wenn ansonsten kein deutscher Elternteil das Sorgerecht ausüben könne. Diese Umschreibung des Normzwecks greift zu kurz. Der Regelungszweck des § 9 Abs. 2 StAG erschöpft sich nicht darin, die privilegierte Einbürgerung eines Elternteils zu ermöglichen, wenn der deutsche Elternteil für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge überhaupt nicht mehr zur Verfügung steht. Das ergibt sich schon daraus, dass die Vorschrift nicht nur beim Tod des deutschen Elternteils eingreift, sondern auch in Fällen von Scheidung und Getrenntleben. Ebenso wie Abs. 1 liegt auch § 9 Abs. 2 StAG die Vermutung einer schnelleren Integration in die deutschen Lebensverhältnisse zugrunde, die der Gesetzgeber bei einer familiären Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Kind ebenso als gerechtfertigt ansieht wie bei einer Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Ehegatten. In beiden Fallgestaltungen weist die unerlässliche Befassung mit deutschen Lebensverhältnissen regelmäßig eine größere Intensität auf als bei Fehlen eines solchen persönlichen Bezuges zu deutschen Lebensverhältnissen.

Auf der Ebene des gesetzlichen Tatbestandes knüpft § 9 Abs. 2 StAG an den formalen Bestand der elterlichen Sorge für ein deutsches Kind an, ähnlich wie § 9 Abs. 1 StAG auf dieser Ebene lediglich an den formalen Bestand, d. h. an die zivilrechtliche Gültigkeit der Ehe mit einem Deutschen anknüpft. Besteht trotz zivilrechtlich wirksamer elterlicher Sorge keine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem deutschen Kind, so liegt - ähnlich wie bei einer sog. Scheinehe im Rahmen des § 9 Abs. 1 StAG - ein atypischer Ausnahmefall vor, der eine Einbürgerung nach Sinn und Zweck des Gesetzes als unangemessen erscheinen lassen kann. In diesem Fall kann die Behörde die Einbürgerung nach Ermessen ablehnen ("soll") (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. September 2003 - 1 C 6.03 -, BVerwGE 119, 17, Juris, Rdn. 18).