VG Bremen

Merkliste
Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 09.09.2005 - 4 V 1380/05 - asyl.net: M9220
https://www.asyl.net/rsdb/M9220
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Duldung, örtliche Zuständigkeit, Umverteilung, gewöhnlicher Aufenthalt, räumliche Beschränkung, Schutz von Ehe und Familie
Normen: VwVfG § 3 Abs. 1 Nr. 3; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2; AufenthG § 72 Abs. 3 S. 1; AufenthG § 60 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; VwGO § 123
Auszüge:

Der zulässige Antrag ist begründet.

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch gegenüber der Antragsgegnerin auf Erteilung einer Duldung glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin ist für die Erteilung einer Duldung an die Antragstellerin ausnahmsweise zuständig. Es liegen in diesen Einzelfall Umstände für einen Ausnahmefall vor, der die Erteilung einer Duldung auch außerhalb der originären örtlichen Behördenzuständigkeit im Einzelfall rechtfertigt.

Der Bundesgesetzgeber hat abweichend von der früheren Rechtslage (§ 20 Abs. 1 bis 3 AuslG 1965) die Regelung der örtlicher Zuständigkeit der Ausländerbehörden den Ländern überlassen. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchstabe a das Bremischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BremVwVfG) vors 15.11.1976 (Brem. GBl. S 243) ist in Angelegenheiten einer Person, für die keine andere Zuständigkeitsregelung besteht, grundsätzlich die Behörde örtlich zuständig, in deren Bezirk die natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist im Verwaltungsvertahrensgesetz nicht näher umschrieben. Das Bundesverwaltungsgericht hat zur Bestimmung des Begriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" verschiedentlich auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I zurückgegriffen (örtliche Zuständigkeit bei Ausweisung: Urteil vorn 04.06.1997 - 1 C 25.96 - NVwZ-RR 1997, 751, gewöhnlicher Aufenthalt i.S.v. § 86 Abs. 1 AuslG: Beschluss vom 29.09.1995 - 1 B 236.94 - NVwZ 1996, 717).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe dürfte der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Bremen haben, weil er nach seinem Vortrag hier mit seiner minderjährigen Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind zusammenlebt.

Die oben umrissene Definition des Begriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" kann indes nicht uneingeschränkt für alle Regelungsbereiche des Ausländerrechts gleichermaßen gelten. Der Rückgriff des Bundesverwaltungsgerichts auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I ist vielmehr vor dem Hintergrund zu sehen, dass ein Ausländer den Ort seines Aufenthaltes in Deutschland im Grundsatz selbst bestimmen kann und an dieses Selbstbestimmungsrecht dann die behördliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde anknüpft (dazu: OVG Harnburg, Beschluss vorn 31.03.1902, EZAR 601 Nr. 1). Die Heranziehung der Legaldefinition des § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I kann jedoch nicht unbesehen in den Fällen erfolgen, in denen der Aufenthalt des Ausländers räumlichen Beschränkungen unterliegt (im Ergebnis ebenso: OVG Bremen, Urteil vom 23.01.1996 - 1 BA 54/95 - zur örtlichen Zuständigkeit bei Fortgeltung einer räumlichen Aufenthaltsbeschränkung nach Wegfall einer asylverfahrensrechtlichen Aufenthaltsbeschränkung wegen endgültiger Ablehnung eines Asylantrags). Vielmehr kann hier als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchstabe a BremVwVfO nur derjenige Ort angesehen werden, wo sich der betreffende Ausländer mit behördlicher Billigung aufhält (ebenso: VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 18.09.1995 - 8 A 35/95 -).

Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass eine auch nach den vorstehenden Ausführungen örtlich nicht zuständige Ausländerbehörde einem Ausländer eine Duldung im Ausnahmefall erteilen kann.

Dabei gilt zunächst zu beachten, dass der Gesetzgeber für das Rechtsinstitut der Duldung keine Familienzusammenführung vorgesehen hat. Die strikte räumliche Beschränkung der Duldung auf ein Land, die auch nach Auslaufen einer Duldung in Kraft bleibt, ist nach der Konzeption des Gesetzgebers prinzipiell unabänderbar, doch schließt dies die Erteilung einer weiteren Duldung aus zwingenden Gründen - beschränkt auf einen speziellen Aufenthaltszweck - ebensowenig aus wie den Länderwechsel im Einvernehmen der beteiligten Länder, also eine "Umverteilung" (vgl. Hess. VGH, B. v. 24.06.1996 - TG 2557/95, InfAuslR 1996. 360). In diesen Fällen hält die Rechtsprechung (Hess. VGH, B. v. 24.06.1996, a.a.O.) und die Kommentierung zum Ausländerrecht (GK, AuslR § 64 Rdnr. 9) aber den § 72 Abs. 3 S. 1 AufenthG für zumindest entsprechend anwendbar, denn die Bestimmung bezieht sich dem Wortlaut nach nicht auf die gesetzlich angeordnete räumliche Beschränkung. Dieser Rechtsprechung schließt sich die Kammer in ständiger Rechtsprechung an.

Dies bedeutet, dass für die Erteilung der neuen Duldung die Ausländerbehörde des aufnehmenden Landes als "andere Ausländerbehörde" i.S.v. § 72 Abs. 3 S 1 AuslG örtlich zuständig wäre, hier also die Ausländerbehörde der Stadtgemeinde Bremen. Diese bedürfte hierfür des Einvernehmens der Ausländerbehörde, in dessen Zuständigkeitsbereich sich der Ausländer bisher befindet bzw. befinden sollte.

Da die Duldung im Grundsatz lediglich der Regelung eines zeitlich überschaubaren Zustands dienen soll, erscheint es auch angesichts des in Art. 6 GG statuierten Schutzes von Ehe und Familie nicht von vornherein unzumutbar, wenn durch die räumliche Beschränkung des Aufenthalts in der Duldung Familienmitglieder zu einer vorübergehend getrennten Aufenthaltsnahme gezwungen sind. Ein Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung, der sich in einem Anspruch auf Erteilung einer weiteren Duldung verdichtet, könnte allenfalls dann unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 GG folgen, wenn es den Familienmitgliedern ausnahmsweise nicht zuzumuten ist, auch nur vorübergehend nicht getrennt zu leben. Artikel 6 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG konkretisiert dabei das Übermaßverbot, das dazu zwingt, Befreiungen von schematisierenden Belastungen zu erteilen, wenn die Folgen extrem über das normale Maß hinausgehen, das der Schematisierung etwa durch eine gesetzliche Regelung zugrunde liegt (ebenso: Hess. VGH, B. v. 24.06.1996, a.a.O. m.w.N.).

Anlass für die Erteilung einer (weiteren) Duldung durch die Ausländerbehörde in Bremen bestünde allenfalls dann, wenn die Lebensgefährtin des Antragstellers und das gemeinsame Kind auf seine Lebenshilfe angewiesen wären und dies die dauernde Anwesenheit des Antragstellers in Bremen erforderlich machen würde.

Eine solche Ausnahmesituation sieht das Gericht in den hier die Lebensgefährtin des Antragstellers und damit auch das gemeinsame Kind betreffenden Umständen. Aufgrund des in den beiden psychiatrischen Gutachten von Herrn ... ausführlich beschriebenen psychischen Zustands der Lebensgefährtin ist es - da ein Ausnahmefall vorliegt - weder dem Antragsteller noch dem Kind mit seiner Mutter zuzumuten, einen Duldungsstreit mit möglicherweise anschließendem gerichtlichen Verfahren in Limburg ohne Anwesenheit des Antragstellers in Bremen abzuwarten. Zu einer solchen Trennung mit ungewisser Dauer käme es aber, wenn der Antragsteller auf das formelle Umverteilungsverfahren verwiesen würde.