VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 31.10.2006 - 3 A 4099/04 - asyl.net: M9349
https://www.asyl.net/rsdb/M9349
Leitsatz:
Schlagwörter: Verfahrensrecht, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Zustellung, öffentliche Zustellung, Aufenthaltsort, Sachaufklärungspflicht, Nachsendeauftrag, Postzustellungsurkunde, Verfahrensmangel, Anhörung, Unbeachtlichkeit, Heilung, Nachholung, Gerichtsverfahren
Normen: AsylVfG § 74 Abs. 1; AsylVfG § 31 Abs. 1; VwZG § 15 Abs. 1a a.F.; VwZG § 3; AsylVfG § 73 Abs. 4 S. 2; AsylVfG § 73 Abs. 4 S. 3; AsylVfG § 73 Abs. 5; VwVfG § 46; VwVfG § 45 Abs. 1 Nr. 3
Auszüge:

Die Klage ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger nicht die Klagefrist (§ 74 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) versäumt. Denn diese Frist hatte zum Zeitpunkt der Klageerhebung (8. Oktober 2004) noch gar nicht zu laufen begonnen. Dem Kläger war der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 2. August 2004 entgegen der Vorschrift des § 31 Abs. 1 AsylVfG nicht wirksam förmlich zugestellt worden. Eine öffentliche Zustellung, wie sie das Bundesamt eingeleitet und nach Maßgabe des hierfür gemäß § 15 VwZG a.F. vorgesehenen Verfahrensganges auch schon vollzogen hatte (Aushang in der Zeit vom 2. bis 17. August 2004), kam nicht in Betracht, da der Aufenthaltsort des Klägers zum Zeitpunkt dieses Zustellversuches nicht im Rechtssinne objektiv unbekannt gewesen ist (§ 15 Abs. 1 a VwZG a.F.).

Bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzung des unbekannten Aufenthaltes des Zustellungsempfängers ist zu berücksichtigen, dass die öffentliche Zustellung als "letztes Mittel" der Bekanntgabe nur zulässig ist, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln. Danach ist der Aufenthaltsort eines Empfängers nicht bereits dann unbekannt, wenn die Behörde seine Anschrift nicht kennt; die Anschrift muss vielmehr allgemein unbekannt sein. Deshalb muss die Behörde vor der öffentlichen Zustellung Ermittlungen nach der Anschrift des Zustellungsempfängers anstellen. Welcher Art diese Ermittlungen sein müssen, richtet sich zwar grundsätzlich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Da bei einer öffentlichen Zustellung von Verwaltungsakten, die eine Rechtsbehelfsfrist in Gang setzen, die erhöhte Gefahr der sachlichen Nichtüberprüfbarkeit des Verwaltungsakts wegen Eintritts der Bestandskraft besteht, müssen hierfür mit Rücksicht auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör jedoch strenge Maßstäbe gelten. Demgemäß ist die Behörde, bevor sie sich des Mittels der öffentlichen Zustellung bedient, gehalten, allen erfolgversprechenden Hinweisen zur Ermittlung des tatsächlichen Aufenthalts des Zustellungsempfängers nachzugehen, soweit dieser Ermittlungsaufwand im Einzelfall zumutbar ist. Insoweit kommen nicht nur Anfragen an das Einwohnermeldeamt, andere Registerbehörden oder auch sonstige über die Verhältnisse des Zustellungsempfängers möglicherweise informierte Ämter oder Behörden, sondern beispielsweise auch Erkundigungen bei privaten Dritten (Nachbarn, Angehörigen) oder etwa auch bei den örtlichen Postdienststellen in Betracht (vgl. zum ganzen BVerwG, Beschluss vom 25. April 1994 - 1 B 69/94 -, Buchholz 340 § 15 VwZG Nr. 2; Thüringisches OVG, Urteil vom 14. Dezember 2000 - 3 KO 1242/97 - DVBl. 2001, 1012; Sächsisches Finanzgericht, Urteil vom 14. Mai 2002 - 3 V 109/02 - V.n.b.; jeweils m.w.N.).

Im Falle des Klägers sind so weitgehende Nachforschungen behördlicherseits nicht angestellt worden. Vielmehr hatte sich das Bundesamt darauf beschränkt, sich bei der Ausländerbehörde des Landkreises Vechta, in dessen Zuständigkeitsbereich sich der Kläger nach dem damaligen Kenntnisstand des Bundesamtes zuletzt aufgehalten hatte, nach dessen aktueller Anschrift zu erkundigen. Indessen ist schon nicht ersichtlich, ob bei dieser Gelegenheit etwa auch die früheren Nachbarn des Klägers oder sein Vermieter befragt worden waren, obwohl dies zumindest nahegelegen hätte. Da es sich jedenfalls nicht aufdrängen musste, dass der Kläger etwa inzwischen untergetaucht sein könnte, zumal er über eine noch bis zum 20. Dezember 2005 gültig gewesene Aufenthaltsbefugnis verfügte und wohl auch erwerbstätig war, hätten darüber hinaus aber auch noch weitere Möglichkeiten der Sachaufklärung in Betracht gezogen werden müssen, als welche sich namentlich noch Erkundigungen beim örtlichen Postamt oder anderen Postdienststellen angeboten hätten. Dortige Anfragen hätten auch tatsächlich Aufschluss über die neue Anschrift des Klägers gegeben. Denn es trifft zu, dass er, wie er bereits bei Klageerhebung angegeben hat, bereits im Mai 2004 einen Nachsendeauftrag erteilt hatte.

Demnach wäre die neue Anschrift des Klägers ohne unzumutbaren Ermittlungsaufwand durch das Bundesamt selbst oder mit Hilfe der Ausländerbehörde feststellbar gewesen. Zu demselben Ergebnis führen - wie ergänzend noch anzumerken ist - letztlich folgende weitere, unmittelbar an den "ultima ratio - Charakter" der öffentlichen Zustellung (vgl. Sächsisches FG, a.a.O.) anknüpfende Erwägungen: Nach der aus Anlass des vorliegenden Falles und im Rahmen dieses Verfahrens vom Gericht eingeholten Auskunft der zentralen Zustellungsstelle der Post ist ein Nachsendeauftrag von den jeweils zuständigen Postdienststellen nach den für sie geltenden Vorschriften und Anordnungen grundsätzlich auch bei der Ausführung von Zustellungsaufträgen zu beachten, d.h. der Zusteller hat das zuzustellende Schriftstück bei Vorliegen eines Nachsendeauftrages im Regelfall selbst dann unter der Nachsendeanschrift zu übergeben oder, wenn eine Übergabe nicht möglich ist, in den dortigen Briefkasten einzulegen, wenn das Schriftstück von dem Absender und Auftraggeber noch an die frühere Anschrift des Empfängers adressiert worden ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich aus der Postzustellungsurkunde dem entgegenstehende, ausdrücklich vermerkte Weitersendungsbeschränkungen ergeben. Um etwaigen Nachsendeaufträgen durch diese Verfahrensweise Rechnung tragen zu können, hat sich der Zusteller vor Beginn des Zustellvorganges oder -versuches darüber zu informieren, ob derartige Aufträge erteilt worden sind.

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass eine Zustellung des angefochtenen Bescheides vom 2. August 2004 von Anfang an und ohnehin in Form der Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gemäß § 3 VwZG möglich gewesen wäre.

Die Unwirksamkeit der Zustellung des Bescheides vom 2. August 2004 bedeutet allerdings andererseits, abgesehen von den Folgen für den Lauf der Klagefrist, nicht, dass der Bescheid im Rechtssinne noch gar nicht existent und somit noch nicht anfechtbar gewesen ist. Vielmehr war dem (seinerzeitigen) Prozessbevollmächtigten des Klägers eine Ausfertigung des Bescheides auf ausdrückliche Anforderung hin von dem Ausländeramt des Landkreises Vechta übersandt worden. Der Kläger hatte damit nicht nur gleichsam zufällig von unbeteiligter dritter Seite erfahren, dass ein solcher Bescheid vorliege, was für sein Existentwerden im verfahrensrechtlichen Sinne nicht ausgereicht hätte, sondern auf Veranlassung einer mit dem Sachvorgang zumindest mittelbar befassten Behörde (Ausländeramt) von dem Bescheid selbst Kenntnis erlangt. Der Bescheid konnte demgemäß mit Rechtsmitteln bereits angegriffen werden, während wegen des Zustellungsmangels die Rechtsmittelfrist jedoch noch nicht in Gang gesetzt worden war (vgl. zum ganzen Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 14. Auflage, § 57 Rdnr. 16 f. und vor § 124 Rdnr. 19 f.).

Die Klage ist auch begründet.

Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung (Ziff. 1 der Entscheidung in dem angefochtenen Bescheid vom 02. August 2004) ist schon deshalb rechtsfehlerhaft, weil dem Kläger das von dem Bundesamt gefertigte Schreiben vom 15. Juni 2004, mit dem ihm gemäß § 73 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG die Einleitung des Widerrufsverfahrens mitgeteilt und Gelegenheit gegeben werden sollte, sich hierzu innerhalb eines Monats zu äußern, unter Verletzung der Vorschriften des § 73 Abs. 4 Satz 3, Abs. 5 AsylVfG nicht wirksam förmlich zugestellt worden ist. Dieser Verfahrensfehler kann auch nicht etwa durch § 46 VwVfG als unbeachtlich angesehen werden. Denn diese Vorschrift ist neben der asylverfahrensrechtlichen Sondervorschrift des § 73 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG nicht anwendbar (auch insoweit folgt das Gericht der Entscheidung des Verwaltungsgerichts München, a.a.O.). Darüber hinaus ist hier auch eine Heilung des Verfahrensfehlers gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG (vgl. zu dessen Anwendbarkeit: GK-AsylVfG, Stand: Juni 2006, § 73 Rdnr. 126) nicht eingetreten. Nach dieser Vorschrift ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die (was hier nicht in Betracht zu ziehen ist) nicht den Verwaltungsakt nach § 44 VwVfG nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Nach § 45 Abs. 2 VwVfG können Handlungen nach Abs. 1 bis zum Abschluss eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Dies bedeutet - bezogen jedenfalls auf den Fall des § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG - allerdings nicht, dass eine Nachholung stets noch "im" gerichtlichen Verfahren möglich ist. Sie kann vielmehr nach dem Willen des Gesetzgebers und nach dem Sinn der Vorschrift grundsätzlich nur in einem Verwaltungsverfahren mit der Verwertung der dort vorgebrachen Tatsachen erfolgen (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 6. Auflage, § 45 Rn. 85, m.w.N.). In der Rechtsprechung ist indessen anerkannt, dass dieser Grundsatz nicht ausnahmslos, sondern dass vielmehr unter engen, dem verfassungsrechtlichen Rang der Anhörungspflicht Rechnung tragenden Voraussetzungen ausnahmsweise etwas anderes gelten kann. Nach dieser Rechtsprechung, welcher das hier erkennende Gericht folgt, ist eine zunächst unterbliebene Anhörung als innerhalb des gerichtlichen Verfahrens wirksam nachgeholt zu betrachten, wenn die durch den Austausch von Schriftsätzen und Stellungnahmen der Beteiligten erfolgende Kommunikation in ihrer Qualität nicht hinter dem zurückbleibt, was im Normalfall im Rahmen eines Anhörungsverfahrens nach § 28 VwVfG stattfinden kann. Hierzu muss dem Betroffenen grundsätzlich - wie auch im Falle der außerhalb des Gerichtsverfahrens durchgeführten Nachholung - durch die Behörde erkennbar gemacht werden, dass er die Gelegenheit erhält, abschließend vorzutragen und dass die Behörde unter Würdigung des evtl. erfolgenden Vortrags über die Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts entscheiden wird. Eines besonderen Hinweises auf die Anhörung bedarf es allerdings ausnahmsweise dann nicht, wenn der Betroffene schon von sich aus umfassend vorgetragen hat. In jedem Falle ist es erforderlich, dass die Behörde eine Entscheidung über die Einwendungen trifft und dem Antragsteller das Ergebnis mitteilt (vgl. zum ganzen VGH Kassel, Beschluss vom 20. Mai 1988 - 4 TH 3616/87 -, NVwZ-RR 1989, 113 f.; dem folgend OVG Lüneburg, Beschluss vom 31. Januar 2002 - 1 MA 4216/01 -, NordÖR 2002, 180).

Die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Nachholung einer Anhörung sind im vorliegenden Falle offensichtlich nicht erfüllt.