VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 29.11.2006 - 1 K 1631/05 - asyl.net: M9428
https://www.asyl.net/rsdb/M9428
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Untätigkeitsklage, Rücknahme, Ausweisung, Befristung, Wirkungen der Ausweisung, Wirkungen der Abschiebung, Sperrwirkung, Zuständigkeit, sachliche Zuständigkeit, untere Ausländerbehörde, Regierungspräsidium, Antrag, Auslegung, atypischer Ausnahmefall, Regelausweisung, Ermessensreduzierung auf Null, Erlasslage, Ermessen
Normen: VwGO § 75; VwVfG § 48 Abs. 5; AAZuVO § 10 Abs. 1; AAZuVO § 12 Abs. 3 S. 1; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Klage ist als Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO zulässig. Über den Antrag des Klägers vom 29.06.2005, mit dem er die Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 26.02.1996, hilfsweise die sofortige Befristung von deren Wirkungen begehrt hat, hat die Beklagte ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden. Ein zureichender Grund ergibt sich insbesondere nicht aus der Unzuständigkeit der Beklagten für die mit dem Hauptantrag begehrte Rücknahme der Ausweisung. Denn die Behörde ist in einem solchen Fall gehalten, den Antragsteller auf diese Bedenken hinzuweisen und ggf. den Antrag an die zuständige Behörde weiterzuleiten oder als unzulässig abzulehnen bzw. zurückzuweisen, und darf ihn nicht einfach liegen lassen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 75 RdNr.15).

1. Die Klage bleibt mit dem Hauptantrag ohne Erfolg. Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Rücknahme der - bestandskräftigen - Ausweisungsverfügung vom 01.10.1997 zu. Denn die Stadt Ulm als untere Ausländerbehörde ist für den Erlass des begehrten Verwaltungsakts nicht passivlegitimiert; sachlich zuständig hierfür ist das Regierungspräsidium Tübingen.

Das Verwaltungsverfahrensgesetz für Baden-Württemberg (Landesverwaltungsverfahrensgesetz - LVwVfG) in der Fassung vom 12. April 2005 (GBl. S. 350) enthält keine Regelung zu der Frage, welche Behörde für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes sachlich zuständig ist.

Für die Ausweisung straffälliger Ausländer, die sich auf richterliche Anordnung in Strafhaft befinden, sind gemäß § 10 Abs. 1 der Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO - in der Fassung vom 11. Januar 2005 (GBl. S. 93) die Regierungspräsidien sachlich zuständig. Ob die sachliche Zuständigkeit des - gemäß § 4 Abs. 1 AAZuVO örtlich zuständigen - Regierungspräsidiums Tübingen auch für die Rücknahmeentscheidung auf diese Bestimmung gestützt werden kann, bedarf keiner abschließenden Klärung. Jedenfalls ergibt sich aus den - gegebenenfalls ergänzend heranzuziehenden - allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen, dass über die Rücknahme vom Regierungspräsidium Tübingen als derjenigen Behörde zu entscheiden ist, die zum Zeitpunkt der (begehrten) Rücknahmeentscheidung für den Erlass des aufzuhebenden Verwaltungsakts sachlich zuständig gewesen wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.12.1999, a. a. O.).

2. Hingegen ist die Klage mit dem Hilfsantrag begründet. Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Bescheidung seines Antrags auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung vom 26.02.1996 sowie der Abschiebung am 29.10.1996 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu.

Mit diesem Ziel ist die Klage aus den oben genannten Gründen gemäß § 75 VwGO zulässig. Dem Kläger kann insoweit auch nicht entgegen gehalten werden, dass sich sein bei der Beklagten gestellter Antrag vom 29.06.2005 wörtlich genommen nur auf eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung bezieht. Denn sein Befristungsantrag zielte bei sachdienlichem Verständnis auch auf die Befristung der Wirkungen der aus der Haft heraus vorgenommenen Abschiebung (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.06.1998 - 13 S 1099/96 -, InfAuslR 1998, 433).

Die Klage hat mit dem Hilfsantrag auch in der Sache Erfolg. Die Beklagte ist gemäß § 12 Abs. 3 AAZuVO zur Entscheidung über die begehrte Befristung berufen. Dem Kläger steht gegen sie ein Anspruch auf Bescheidung seines Befristungsantrags gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu. Denn die Prüfung der Untätigkeitsklage ergibt nicht von vornherein, dass das von der Behörde nicht beschiedene Sachbegehren offensichtlich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Erfolg haben könnte, weil der mit dem Antrag geltend gemachte materielle Anspruch tatsächlich nicht bestünde (vgl. zu diesem Kriterium: BVerwG, Urt. v. 28.03.1968 - VIII C 22.67 -, BVerwGE 29, 239).

Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG genügt eine zeitlich befristete Ausweisung in der Regel zur Erreichung der damit verfolgten Zwecke. Die Worte "in der Regel" beziehen sich dabei auf Fälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Fälle unterscheiden, also typische Sachverhalte betreffen. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.08.2000 - 1 C 5.00 -, NVwZ 2000, 1422). Bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist zunächst das Gewicht des Ausweisungsgrundes zu berücksichtigen (vgl. auch die Äußerung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren, eine Regelbefristung der Ausweisung erscheine in besonders gravierenden Fällen, zum Beispiel bei BTM-Tätern nicht angebracht, BT-Drucksache 11/6541, S. 2). Das Regelungssystem des § 11 Abs. 1 AufenthG erfasst alle Fälle der Ausweisung, also die Ist-Ausweisung, die Regelausweisung und die Ausweisung nach Ermessen. Da die Ausweisungsmöglichkeiten nach dem unterschiedlichen Gewicht der Ausweisungstatbestände abgestuft sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.09.1995, Buchholz 402.240, § 47 AuslG 1990 Nr. 7), kommt dem Umstand, ob der Fall der Ist-, Regel- oder Ermessensausweisung vorliegt, auch bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegeben ist, Gewicht zu. Eine Ist- oder Regelausweisung begründet jedoch nicht generell einen Ausnahmefall, andererseits schließt der Fall der Ermessensausweisung das Vorliegen einer Ausnahme nicht ohne weiteres aus. Vielmehr bedarf es der Abwägung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände eine unbefristete Ausweisung rechtfertigen (vgl. noch zu § 8 AuslG, Hailbronner, AuslR, § 8 AuslG RdNr. 42). Weiter sind die mit der Ausweisung verfolgten spezial- und generalpräventive Zwecke zu berücksichtigen. Die Sperrwirkung muss so lange bestehen, wie es diese Zwecke im Einzelfall erfordern.

Bei Anwendung dieser Grundsätze rechtfertigt allein das Gewicht des damaligen Ausweisungsgrundes zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine Ausnahme von der Regel des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Die Kammer vermag hierin keinen außergewöhnlichen Fall von Gefährlichkeit, Hartnäckigkeit und Rücksichtslosigkeit zu erkennen.

Geht aus dem vorgelegten polizeilichen Führungszeugnis bzw. Strafregisterauszug hervor, dass der Kläger in der Türkei nicht oder nicht in nennenswertem Umfang straffällig geworden ist, wird die Beklagte eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung nicht ablehnen können. Insbesondere ist das behördliche Ermessen dann durch Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. einer Selbstbindung der Verwaltung zugunsten einer sofortigen Befristung der Ausweisungswirkungen reduziert. Die von den Ausländerbehörden in der Praxis angewandte ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg über die Bemessung der Sperrwirkung bei Befristungsentscheidungen vom 25. Januar 2002 (Az.: 1362/129, im folgenden: VwV-Befristung) sieht im Falle einer Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 AuslG (jetzt § 54 AufenthG) einen Rahmen für die zeitliche Befristung von 1 bis 7 Jahren, im Regelfall eine Frist von 5 Jahren jeweils zuzüglich des verhängten Strafmaßes vor (vgl. Nr. 1.3.2). Die danach im Falle des Klägers maßgebliche Regelfrist von 7 Jahren und 3 Monaten ist inzwischen bei weitem übertroffen.

Auch die Befristung der Wirkung der Abschiebung, über die die Ausländerbehörde gesondert zu entscheiden hat (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.06.1998, a. a. O.), darf nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nur in atypischen Fällen versagt werden. Insoweit gelten die oben dargestellten Grundsätze zur Befristung der Wirkung der Ausweisung entsprechend, wobei Unterschiede in den Zwecken von Ausweisung und Abschiebung zu berücksichtigen sind. Danach liegt beim Kläger kein Ausnahmefall vor, der ein Absehen von der Regelbefristung rechtfertigen könnte. Er hat sich seiner Ausreisepflicht nicht hartnäckig widersetzt und musste auch nicht mehr als einmal abgeschoben werden. Die nicht fristgerechte Ausreise kann als solche allein keinen Ausnahmefall begründen, da für die Abschiebung eines Ausländers regelmäßig die nicht fristgerechte Ausreise vorausgesetzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.08.2000, a. a. O.). Der Kläger hat sich schließlich nach seiner Abschiebung auch nicht illegal im Bundesgebiet aufgehalten. Lediglich die Kosten der Abschiebung in Höhe von 434,83 EUR sind - soweit ersichtlich - von ihm noch nicht beglichen. Dass bei prognostischer Betrachtung beim Kläger die Besorgnis bestünde, er gäbe bei einem künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet erneut Anlass für Vollstreckungsmaßnahmen, und dieser Besorgnis zum heutigen Zeitpunkt nur durch eine Dauersperre und nicht durch eine Befristung begegnet werden könnte, lässt sich mithin nicht feststellen. Bei der daher zu treffenden Ermessensentscheidung ist wiederum die durch die Verwaltungspraxis vorgenommene Selbstbindung zu berücksichtigen. Nach Nr. 2 VwV-Befristung beträgt die Sperrfrist hinsichtlich der Abschiebungswirkungen zwischen 1 und 5 Jahren und wird im Regelfall auf 3 Jahre festgesetzt.