VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 02.06.2006 - 13a B 05.31016 - asyl.net: M9450
https://www.asyl.net/rsdb/M9450
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Baath, unerlaubte Ausreise, Sicherheitslage, allgemeine Gefahr, Kriminalität, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Situation bei Rückkehr, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Anerkennungsrichtlinie, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, menschenrechtswidrige Behandlung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Ermessen, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Altfälle, Drei-Jahres-Frist, Fristbeginn
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Bst. e; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 2a
Auszüge:

Die zulässige Berufung hat Erfolg.

Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtmäßig. Der Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Iraks findet seine Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 1 AsylVfG. Auch zu den weiteren Feststellungen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, war das Bundesamt berechtigt.

Nach Überzeugung des Gerichts hat der Kläger in Folge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Änderung der Verhältnisse weder zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch in absehbarer Zukunft mangels abschiebungsschutzrelevanter Rückkehrgefährdung einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG. Auch soweit § 60 Abs. 1 AufenthG die Voraussetzungen für den Abschiebungsschutz politisch Verfolgter weiter fasst als die Vorgängerregelung in § 51 Abs. 1 AuslG, wirkt sich dieser übergreifende Schutz nicht zu Gunsten des Klägers aus.

Im Gegensatz zum Zeitpunkt der Einreise des Klägers in das Bundesgebiet und der Asylantragstellung im Jahre 2001 drohen diesem nunmehr wegen der Asylantragstellung und/oder illegaler Ausreise mit hinreichender Wahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen im Irak (mehr).

Allerdings sind im Irak terroristische Anschläge an der Tagesordnung. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ist die allgemeine Sicherheitslage seit Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil.

Wie den genannten Informationsquellen, insbesondere den Lageberichten, weiter entnommen werden kann, ist gleichzeitig auch die allgemeine Kriminalität stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Gemessen an der Vielzahl der Anschläge auf verschiedene Bevölkerungsgruppen durch nichtstaatliche Akteure (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG) sind die Übergriffe auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, etwa auf Rückkehrer, aber nicht derart häufig, dass sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegenwärtig und in näherer Zukunft eine Gruppenverfolgung begründen könnten.

Der Tatbestand des Widerrufs der Anerkennung als Asylberechtigter bzw. der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, ist bereits erfüllt, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (BVerfG vom 2.7.1980 BVerfGE 54, 341; BVerwG vom 24.11.1992 Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG 1992 Nr. 1). Die Klausel des Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK, die bei der Auslegung der Widerrufsbestimmungen zu berücksichtigen ist, bezieht sich ausschließlich auf den Schutz vor erneuter Verfolgung. Gegen den Widerruf kann der Ausländer dagegen nicht einwenden, dass ihm im Heimatstaat nunmehr sonstige, namentlich allgemeine Gefahren drohen (z. B. auf Grund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage). Ob ihm deswegen eine Rückkehr unzumutbar ist, ist beim Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nicht zu prüfen. Schutz kann ihm insoweit nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes gewährt werden (BVerwG vom 1.11.2005 a.a.O. Rz. 24).

Auch die Voraussetzungen von § 60 Abs. 2, 3, 5 und 6 AufenthG liegen nicht vor. Insbesondere hat der Kläger nach Überzeugung des Gerichts zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zukunft bei Rückkehr in den Irak infolge der inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse keine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu befürchten.

Staatliche Verfolgungsmaßnahmen ihm gegenüber als Rückkehrer sind nach der Auskunftslage nicht ersichtlich. Daher kann schon nicht § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zur Anwendung kommen. Denn unmenschliche Behandlungen im Sinne dieser Vorschrift setzen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Misshandlungen durch staatliche Organe voraus (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 331).

Ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG wegen der allgemein problematischen Sicherheits- und Versorgungslage im Irak, der der Kläger bei Rückkehr in sein Heimatland ausgesetzt wäre, besteht ebenfalls nicht. Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az. I A 2-2084.20-13) die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger ausgesetzt und verfügt, dass auslaufende Duldungen bis auf weiteres um sechs Monate verlängert werden. Die Konferenz der Länderinnenminister hat wiederholt, u.a. am 19. November 2004, die Einschätzung des Bundes geteilt, dass ein Beginn von zwangsweisen Rückführungen in den Irak nicht möglich ist (vgl. u.a. Asylmagazin 2004/12 S. 17). Demzufolge bleibt auch in Bayern die Abschiebung irakischer Staatsangehöriger weiterhin ausgesetzt (vgl. u.a. Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren vom 30.4.2004). Damit liegt eine Erlasslage im Sinne des § 60a AufenthG vor, welche dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt, so dass dem Kläger nicht zusätzlich Schutz vor der Durchführung der Abschiebung, etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren wäre (zu § 53 Abs. 6 AuslG vgl. BVerwG vom 12.7.2001 BVerwGE 114, 379 = NVwZ 2001, 1420).

Im Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass für den Kläger eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG), würde er derzeit in den Irak zurückkehren. Die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in diese Rechtsgüter zu werden, genügt nicht für die Annahme einer solchen Gefahr. Verlangt ist vielmehr die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Rechtsgutverletzung, mithin das Vorliegen einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 331 = BayVBl 1996, 216). Daran fehlt es hier. Dem Umstand, dass viele Bevölkerungsgruppen von Anschlägen einer terroristischen Guerilla und von Kriminellen betroffen sein können, ist ebenso wie Befürchtungen, nach Rückkehr das Opfer krimineller Umtriebe zu werden, durch Schaffung einer entsprechenden Erlasslage - vorübergehende Aussetzung der Abschiebung - Rechnung getragen worden.

Der am 1. Januar 2005 in Kraft getretene § 73 Abs. 2a AsylVfG steht der Rechtmäßigkeit der Widerrufsentscheidung nicht entgegen.

Zwar war § 73 Abs. 2a AsylVfG bei der Entscheidung des Bundesamts vom 28. Januar 2005 bereits in Kraft. Entsprechende Überleitungsregelungen oder Rückwirkungsbestimmungen fehlen jedoch (vgl. auch § 87 Abs. 1, § 87b AsylVfG). Daher kann die in § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG normierte Drei-Jahres-Frist erst mit dem Inkrafttreten am 1. Januar 2005 zu laufen begonnen haben.