VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 07.06.2006 - 6 A 1680/04 - asyl.net: M9458
https://www.asyl.net/rsdb/M9458
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Baath, Machtwechsel, Kirkuk, Araber, Sippenhaft, Militärangehörige, Mitglieder, allgemeine Gefahr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Sicherheitslage, Abschiebungsstopp, Erlasslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 25.03.2004 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger deshalb nicht in seinen Rechten.

Die Sachlage hat sich nach Erlass des Bescheides des Bundesamtes vom 10.08.2000, mit welchem dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG gewährt worden ist, entscheidungserheblich und damit in einer den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG rechtfertigenden Weise geändert.

Dem Kläger droht derzeit auch nicht aus anderen Gründen eine Verfolgung im Sinne des nunmehr geltenden § 60 Abs. 1 AufenthG.

Der Kläger hat dazu in seinem Schreiben vom 21.03.2004 an das Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass es in seiner Heimatstadt Kirkuk zu Konflikten zwischen Kurden und Arabern gekommen sei. Dieses Vorbringen hat zwar durchaus einen realen Hintergrund. So heißt es im Lagebericht Irak des Auswärtigen Amtes vom 24.11.2005 (Stand: November 2005, S. 12):

Der für humanitäre Angelegenheiten zuständige Sondergesandte der Vereinten Nationen, Ross Mountain, erklärte Mitte September 2004, Kirkuk stehe vor dem Ausbruch eines ethnischen Konflikts zwischen Arabern und Kurden. Dieser ist zwar bis heute nicht offen ausgebrochen, doch kommt es immer wieder zu Anschlägen in der Stadt, zuletzt am 11.05.2005. Die ehemalige Regierung unter Saddam Hussein führte in den 1990er Jahren eine aggressive Arabisierungspolitik in Kirkuk durch. Berichten zufolge versuchen vor allem kurdische Gruppen seit dem Sturz des Regimes, diese Politik rückgängig zu machen, indem die arabische Bevölkerung zur Rückkehr in ihre ehemaligen Siedlungsgebiete aufgefordert wird und gezielt Kurden in Kirkuk angesiedelt werden. Diese Siedlungspolitik führt zu Spannungen in der Bevölkerung.

Dieser Lagebericht und auch die sonstigen der Kammer vorliegenden Erkenntnismittel belegen aber nicht, dass arabische Volkszugehörige allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit in Kirkuk oder gar landesweit im Irak verfolgt werden.

Das Vorbringen des Klägers bietet auch keinen hinreichenden Anlass zur Annahme, ihm drohe bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG, weil - so der Kläger in seinem Schreiben vom 21.03.2004 an das Bundesamt - sein Vater Offizier in der irakischen Armee gewesen ist. Dass Familienangehörige von ehemaligen Armeeoffizieren grundsätzlich einer besonderen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sind, belegen die der Kammer vorliegenden Erkenntnismittel nicht und wird im Übrigen auch nicht vom Kläger geltend gemacht. In der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 09.02.2005, Nds. Rpfl. 2005, 258; OVG Koblenz, Beschl. v. 21.10.2004 - 8 A 11245/04 -) ist auch bereits wiederholt ausgesprochen worden, dass zumindest einfachen Mitgliedern der Baath-Partei im Falle ihrer Rückkehr in den Irak keine politische Verfolgung droht.

Die vom Kläger angesprochene ungeklärte und unsichere politische Situation im Irak steht dem Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ebenfalls nicht entgegen.

Der Kläger ist bei einer Abschiebung in den Irak auch nicht einer konkreten Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgesetzt.

Die allgemein schwierigen Lebensverhältnisse und eine schlechte Versorgungslage im Herkunftsland rechtfertigen nach der Rechtsprechung des BVerwG (Urt. v. 12.07.2001, BVerwGE 115, 1; Urt. v. 08.12.1998, NVwZ 1999, 666) und des Niedersächsischen OVG (Beschl. v. 30.06.2004, 9 LB 53/04; Beschl. v. 30.03.2004, NVwZ-RR 2004, 614) zu der wortgleichen Vorgängervorschrift des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, der sich die Kammer bereits angeschlossen hat (Urt. der Kammer vom 03.08.2005, 6 A 5711/02 und 6 A 7158/03), auch dann keinen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn sie zu einer individuellen Gefährdung des betroffenen Ausländers führen. Dies gilt nach der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG (Urt. v. 12.07.2001, BVerwGE 115, 1, 7; Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324, 328) ausnahmsweise dann nicht, wenn der Ausländer bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde. Eine derart extreme allgemeine Gefahrenlage besteht derzeit im Irak nicht. Davon wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung - soweit ersichtlich - noch einhellig ausgegangen (vgl. Nds.OVG, Beschl. v. 30.06. 2004, 9 LB 53/04; Beschl. v. 30.03. 2004, NVwZ-RR 2004, 614; OVG Münster, Beschl. v. 06.07.2004, 9 A 1406/02.A; OVG Koblenz, Beschl. v. 26.02.2004, AuAS 2004, 119; Bay. VGH, Urt. v. 03.03.2005, 23 B 04.30631; Urt. v. 13.11.2003, AuAS 2004, 43; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.10.2003, 1 LB 41/03; a.A. VG Lüneburg, Urt. v. 25.11.2005, 6 A 260/05; VG Köln, Urt. v. 17.06.2005, 18 K 5407/01.A).

Im Übrigen ist nach der Rechtsprechung des BVerwG (Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 2/01 - BVerwGE 114, 379, 385; ebenso Sächsisches OVG, Beschl. v. 30.03.2005, AuAS 2005, 149) ein Durchbrechen der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) dann nicht geboten, wenn zwar kein Abschiebestopp nach § 54 AuslG (jetzt § 60 a Abs. 1 AufenthG) erlassen worden ist, die sonstige ausländerrechtliche Erlasslage dem Ausländer aber einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt. Davon ist im Falle irakischer Staatsangehöriger und damit auch im Falle des Klägers noch immer auszugehen (vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 14.02.2006, 9 LB 264/03).