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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.01.2007 - 11 S 2616/06 - asyl.net: M9522
https://www.asyl.net/rsdb/M9522
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, Antrag, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, EGMR, Rechtsprechung, Drogendelikte, Verhältnismäßigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1; AufenthG § 53 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; EMRK Art. 8; VwGO § 80 Abs. 3; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 29.10.2006 ist zulässig (vgl. §§ 146, 147 VwGO) und begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers hinsichtlich der für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung wiederhergestellt und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung angeordnet.

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts spricht Überwiegendes dafür, dass die Wirkungen der Ausweisung des Antragstellers im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zu Art. 8 EMRK bereits in der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 29.08.2006 zu befristen gewesen wären, weil der Antragsteller in Deutschland geboren, mit Ausnahme einer geringen Aufenthaltszeit in seiner Heimat stets in Deutschland gelebt und einen Schulabschluss erreicht habe. Es komme hinzu, dass er einen gefestigten Aufenthaltsstatus besitze und zeitweilig in Arbeit gestanden habe sowie Vater eines Kindes sei. Zu seiner Heimat unterhalte der Antragsteller - soweit ersichtlich - keine Kontakte.

Mit dieser Begründung würdigt das Verwaltungsgericht jedoch nur einen Teil der persönlichen Verhältnisse des Antragstellers. Insbesondere wegen der mehrfachen Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, die dreimal zu Haftstrafen geführt haben, ist es - auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK - nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner die Ausweisungsverfügung erlassen hat, ohne zugleich von Amts wegen über eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu entscheiden. Dies ergibt sich aus Folgendem:

1. Das Aufenthaltsgesetz unterscheidet zwischen dem Ausweisungsverfahren und dem Verfahren, das auf eine erneute Gestattung des Aufenthaltsrechts gerichtet ist (so schon BVerwG zum früheren Ausländergesetz, s. Urteil vom 20.05.1980 - 1 C 82.76 -, DÖV 1980, 725, 727). Die Ausweisung hat zur Folge, dass der betroffene Ausländer das Bundesgebiet zu verlassen hat. Eine Entscheidung darüber, wie lange die Abwesenheit vom Bundesgebiet gegebenenfalls dauern muss, wird im Ausweisungsverfahren nicht getroffen. Hierfür sieht das Gesetz ein weiteres Verfahren - das Befristungsverfahren - vor, in dem über die Geltungsdauer der gesetzlichen Folgen der Ausweisung (Sperrwirkung) nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG entschieden wird. Die Einleitung des Befristungsverfahrens setzt nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG einen Antrag voraus; die Befristung hat "in der Regel" zu erfolgen. Sie steht somit nicht im Ermessen der Behörde, sondern darf - sofern kein Fall des § 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG vorliegt - nur in Ausnahmefällen unterbleiben und unterliegt der vollen gerichtlichen Nachprüfung (BVerwG, Urteil vom 11.08.2000 - 1 C 5.00 -, InfAuslR 2000, 483). Weitere Entscheidungsvoraussetzungen enthält § 11 Abs. 1 AufenthG nicht. Die Vorschrift macht die Zulässigkeit eines Befristungsantrags oder einer Entscheidung darüber insbesondere nicht von einer vorherigen freiwilligen Ausreise des Ausländers oder der Bezahlung möglicherweise angefallener Abschiebekosten abhängig.

Eine der Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG widersprechende Erschwerung der Rechtsverfolgung oder gar eine Verkürzung des Rechtsweges bedeutet die Trennung der beiden Verfahren nicht (s. BVerwG, Urteil vom 20.05.1980, a.a.O.). Auch eine Beeinträchtigung des Rechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK auf Achtung des Privat- und Familienlebens kann der Senat hierin nicht erkennen. Der EGMR hat zwar in mehreren Entscheidungen die Ausweisung eines Ausländers als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK erachtet, weil (noch) keine Entscheidung über die Befristung ihrer Wirkungen getroffen worden war (vgl. Urteil vom 17.04.2003 - 52853/99 -, <Yilmaz>, NJW 2004, 2147, 2149; Urteil vom 22.04.2004 - 42703/98 -, <Radovanovic>, InfAuslR 2004, 374; Urteil vom 27.10.2005 - 32231/92 - <Keles>, InfAuslR 2006, 3). Den Urteilen des EGMR lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass die Befristungsentscheidung stets bereits mit der Ausweisungsentscheidung zusammen getroffen werden muss und dass die Befristung nicht von einem entsprechenden Antrag abhängig gemacht werden darf. Das Urteil vom 22.04.2004 (<Radovanovic>, a.a.O.) betrifft zudem ein unbefristetes Aufenthaltsverbot nach österreichischem Recht und kann schon wegen der unterschiedlichen rechtlichen Ausgangslage nicht ohne weiteres herangezogen werden.

Das deutsche Recht verhindert eine - durch die Ausweisung mit zunächst unbefristeter Sperrwirkung möglicherweise ausgelöste - unverhältnismäßige Einschränkung der persönlichen Lebensführung des Ausländers dadurch, dass es ihm für den Regelfall einen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung, insbesondere des Einreise- und Aufenthaltsverbots, gewährt (§ 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG; vgl. dazu auch BVerfG, Urteil vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 -, BVerfGE 51, 386, 398 f. und BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 1 B 126/97 -, Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 13). Es macht somit - anders als der EGMR - die Entscheidung über das "Ob" der Befristung der Ausweisungswirkungen im Regelfall nicht einmal von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig. Die regelmäßige Befristung setzt lediglich einen entsprechenden Antrag voraus, der seinerseits wiederum weder in zeitlicher noch in qualitativer Hinsicht an weitere Anforderungen geknüpft ist. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ist nur erforderlich, wenn die Ausländerbehörde ausnahmsweise die Befristung versagen will. In diese Prüfung sind unter anderem die nach Art. 8 EMRK relevanten Gesichtspunkte einzubeziehen. Nach Auffassung des Senats steht daher das Aufenthaltsgesetz, das eine Befristung nur auf Antrag vorsieht, weder zu dem - gleichrangigen - Art. 8 EMRK noch zu der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR in Widerspruch (zur Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 01.03.2004 - 2 BvR 1579/03 -, DVBl. 2004, 1097, 1098 ff.).