VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2006 - 17 K 1214/05 - asyl.net: M9530
https://www.asyl.net/rsdb/M9530
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Rücknahme, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Ermessensausweisung, Ermessensreduzierung auf Null, Ermessen
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 14; AuslG § 47
Auszüge:

Die Klage ist zwar zulässig, jedoch nicht begründet.

Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme der - bestandskräftigen - Ausweisungsverfügung vom 01.10.1997.

Gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Eine Rücknahme gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG setzt somit voraus, dass die Ausweisungsverfügung vom 01.10.1997 rechtswidrig war. Maßgeblicher Zeitpunkt für die rechtliche Beurteilung ist hier, da die Ausweisungsverfügung unanfechtbar ist, der Zeitpunkt des Eintritts ihrer Unanfechtbarkeit (05.11.1997; vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 14.12.2005, Az.: 3 Bs 79/05, Juris).

Unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297), die ihrerseits auf der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften - EuGH - vom 29.04.2004 (Rs. C - 482/01 und C 493/01 -, Orfanopoulos und Oliveri, DVBl. 2004, 876) beruht, kann die Ausweisungsverfügung vom 01.10.1997 nur rechtswidrig gewesen sein, wenn dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 zustand. Der angefochtene Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart - Bezirksstelle für Asyl - vom 05.04.2005 geht davon aus, dass dem Kläger zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt eine aufenthaltsrechtliche Rechtsposition nach Art. 7 S. 1 ARB 1/80 zustand. Hiervon gehen die Beteiligten auch weiterhin übereinstimmend aus. Nach der oben bezeichneten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 durfte der Kläger danach nur auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß den §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. § 47 AuslG schied danach als Rechtsgrundlage aus. Tatsächlich ist der Kläger aber, wie aus der Verfügung vom 01.10.1997 bzw. aus dem Schreiben des Regierungspräsidiums Stuttgart an die Bevollmächtigten des Klägers vom 16.09.1997 hervorgeht, allein auf der Grundlage des § 47 AuslG ausgewiesen worden.

Die Pflicht der Ausländerbehörde, die bestandskräftige Ausweisungsverfügung vom 01.10.1997 im Rahmen des § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG zu überprüfen und der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 (a.a.O.) und damit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.04.2004 (a.a.O.) Rechnung zu tragen, bedeutet nicht, dass der Beklagte die Ausweisungsverfügung aufheben musste. Vielmehr braucht sich die gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG erforderliche Prüfung nur darauf zu erstrecken, ob der Beklagte die Ausweisung seinerzeit auch dann verfügt hätte, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass über die Frage der Ausweisung eine Ermessensentscheidung zu treffen sei. Sofern der Beklagte bei der vorzunehmenden Prüfung unter Berücksichtigung sämtlicher wesentlicher Umstände in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass er den Kläger auch im Wege einer Ermessensentscheidung ausgewiesen hätte, und wenn der Beklagte die entsprechenden Ermessenserwägungen darlegt, ist der genannten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.04.204 und dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 hinreichend Rechnung getragen. Dem Beklagten ist es dann nicht verwehrt, das ihm durch § 48 Abs. 1 S. 1 LVwVfG eingeräumte Ermessen im Ergebnis so zu betätigen, dass er die Ausweisungsverfügung vom 01.10.1997 bestehen lässt (vgl. hierzu Hamburgisches OVG, a.a.O., m.w.N.).

Die angefochtene Entscheidung vom 05.04.2005 genügt den vorstehenden Anforderungen und ist daher rechtlich nicht zu beanstanden.

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführung ergibt sich auch kein Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung, weil das Ermessen der Ausländerbehörde angesichts der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalles auf Null reduziert wäre. Eine derartige Reduktion des Ermessens ist dann zu bejahen, wenn ein Aufrechterhalten des ursprünglichen Verwaltungsaktes schlechthin unerträglich wäre bzw. für den Betroffenen unzumutbare Folgen hätte. Eine Ermessensreduzierung auf Null kann sich ferner in den Fällen der Selbstbindung ergeben, wenn auch in anderen Fällen einem Antrag auf Rücknahme stattgegeben worden ist und Art. 3 GG die Gleichbehandlung verlangt (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 48 RdNr. 81-83). Schließlich kann sich ein Rechtsanspruch auf Rücknahme auf der Grundlage des gemeinschaftsrechtlichen Effizienzgebotes ergeben, wenn andernfalls die Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht vereitelt oder übermäßig erschwert würde (vgl. VG Karlsruhe, Urt. v. 02.02.2006, Az.: 6 K 524/05; zum gemeinschaftsrechtlichen Effizienzgebot vgl. Kenntner in Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 79 RdNr. 26 m.w.N.).

Zunächst ist die Aufrechterhaltung der Ausweisung vom 01.10.1997 nicht schlechthin unerträglich bzw. für den Kläger mit unzumutbaren Folgen verbunden. Dies ergibt sich schon daraus, dass nach den obigen Ausführungen der Kläger unter Beachtung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.04.2004 und des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 ermessensfehlerfrei hätte ausgewiesen werden können. Außerdem steht dem Kläger die Möglichkeit der Befristung der Wirkungen der Ausweisung zur Verfügung, ohne dass es darauf ankäme, dass eine Befristung gegenwärtig noch nicht ausgesprochen ist.

Eine Selbstbindung der Ausländerbehörde liegt nicht vor.

Ein Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung ergibt sich auch nicht aus dem Gemeinschaftsrecht (vgl. hierzu im Einzelnen VG Karlsruhe, a.a.O. Ein derartiger Anspruch kann insbesondere nicht aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom 13.01.2004 - Rs. C 453/00 - Kühne und Heitz -, EuGRZ 2004, 67) entnommen werden. Aus dieser Entscheidung ergibt sich vielmehr, dass die Rechtssicherheit zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört und die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetretene Bestandskraft zur Rechtssicherheit beiträgt. Daher verlangt das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. Allerdings besteht unter den in der genannten Entscheidung des EuGH genannten Voraussetzungen nach dem in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit eine Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, ihre Entscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen. Die Behörde muss anhand der Ergebnisse dieser Überprüfung entscheiden, inwieweit sie verpflichtet ist, die in Rede stehende Entscheidung zurückzunehmen.