VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 18.05.2006 - 11 K 4243/04 - asyl.net: M9531
https://www.asyl.net/rsdb/M9531
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Einbürgerung, Anspruchseinbürgerung, Aufenthaltsdauer, Folgeantrag, Aufenthaltsgestattung, Lebensunterhalt, Vertretenmüssen, Arbeitslosigkeit, betriebsbedingte Kündigung, verfassungsfeindliche Bestrebungen, Loyalitätserklärung, Unterstützung, Algerien, Algerier, FIS, Muslimbruderschaft, L&#39,Éspoir, GIA, Abwendung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen, Ermessenseinbürgerung, besondere Härte
Normen: StAG § 10 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1; AsylVfG § 55 Abs. 1; StAG § 12 Abs. 1; StAG § 11 Nr. 2; StAG § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; StAG § 8 Abs. 2; StAG § 9
Auszüge:

I. Der Kläger erfüllt zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. dazu VGH Baden-Württ., Beschl. v. 13.12.2004 - 13 S 1276/04 - InfAuslR 2005, 64) die Einbürgerungsvoraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 StAG, und verwirklicht keinen Ausschlussgrund nach § 11 StAG in der hier maßgebenden seit 1.1.2005 bzw. 18.3.2005 geltenden Fassung (Art. 15 Abs. 3 Zuwanderungsgesetz v. 30.7.2004, BGBl. I S. 1950, § 40c StAG, Art. 6 des Änderungsgesetzes v. 14.3.2005, BGBl. I S. 721).

Das Erfordernis, dass der Kläger seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (§ 10 Abs. 1 StAG), ist durch Einbeziehung einer Aufenthaltsgestattung erfüllt, die am 18.5.1998 bereits entstanden war (vgl. Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums Baden-Württemberg zum Staatsangehörigkeitsrecht v. 5.1.2001 - BW-StAR-VwV - Nr. 85.1.1 f). Wie sich aus dem Urteil vom 28.4.1999 (A 5 K 16067/97) ergibt, hat der Folgeantrag wegen vorliegender Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt, während dessen der Aufenthalt gestattet ist (§§ 55 Abs. 1 S. 1, 71 Abs. 1 S. 1 AsylVfG). Der Zeitpunkt steht damit zwar nicht fest, denn Wiederaufgreifensgründe könnten auch erst während des Gerichtsverfahrens eingetreten sein. Den Entscheidungsgründen des Urteils lässt sich aber entnehmen, dass bereits das Vorbringen aus dem Jahr 1997 zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ausreichte.

Sofern der Kläger den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB II oder XII nicht bestreiten kann, ist der Grund dafür nicht von ihm zu vertreten (§ 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, S. 3 StAG). Ein zeitweiliger Bezug von Arbeitslosengeld II wäre laut Schriftsatz vom 16.6.2005 auf eine betriebsbedingte Kündigung zurückzuführen, nachdem der Kläger zuvor etwa 1.850 Euro netto im Monat verdient hatte.

Streitig ist allein, ob die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 1 StAG nicht erfüllt sind und ein Ausschlussgrund nach § 11 Nr. 2 StAG eingreift, weil tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, und nicht glaubhaft gemacht ist, dass sich der Kläger von der früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat. Das Gericht vermag jedoch keine dieser Alternativen anzunehmen noch die darauf bezogene Loyalitätserklärung als wahrheitswidrig einzustufen und hält jedenfalls eine Abwendung von früherer Verfolgung oder Unterstützung inkriminierter Bestrebungen für glaubhaft.

Zu den tatsächlichen Anhaltspunkten, die solche Annahmen rechtfertigen müssen, gehören auch die damit zusammenhängenden Umstände, die erst eine wertende Gesamtschau ermöglichen (vgl. Berlit in GK-StAR, RdNr. 88 zu § 11 StAG). Dabei darf der Blick auf eine Unterstützungshandlung nicht vernachlässigen, dass diese einer Person zugeordnet ist, indem "der Einbürgerungsbewerber" Bestrebungen unterstützt (hat). Dies ergibt sich auch aus folgenden Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 15.03.2005, DVBl 2005, 1203 = NVwZ 2005, 1091; insoweit nicht wiedergegeben vom VGH Baden-Württ., Urt. v. 10.11.2005 - 12 S 1696/05 -) zu § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG (vgl. jetzt § 54 Nr. 5 i.V.m. § 5 Abs. 4 S. 1 und 2 AufenthG und § 11 S. 1 Nr. 3 StAG).

Allerdings muss auch die eine Unterstützung der Vereinigung, ihre Bestrebungen oder ihre Tätigkeit bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. An einem Unterstützen fehlt es hingegen, wenn jemand allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht aber auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus befürwortet - und sich hiervon ggf. deutlich distanziert - und lediglich dies durch seine Teilnahme an erlaubten Veranstaltungen in Wahrnehmung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung nach außen vertritt.

Für den Begriff des Unterstützens ist ferner zu berücksichtigen, dass er mit dem gleichen Inhalt bei der Frage der Abwendung in Bezug genommen wird. Wenn für das Abwenden von einer früheren Unterstützung über das bloße Unterlassen hinaus ein Element der Nachhaltigkeit gefordert wird (vgl. VGH Baden-Württ. a.a.O m.w.N.; Berlit a.a.O RdNr. 152 zu § 11 StAG), so ist dieses auch für die Unterstützung selbst zu fordern (vgl. VGH Baden-Württ. a.a.O. unter Bezugnahme auf Urt. v. 11.07.2002 - 13 S 1111/01 -). Ob darüber hinaus eine (nachhaltige) Identifikation mit den Bestrebungen indiziert sein muss (so Berlit a.a.O. RdNr. 98 zu § 11 StAG; a.A. VGH Baden-Württ., Urt. v. 10.11.2005 a.a.O.), mag ebenfalls von den Anforderungen an eine Abwendung von den Bestrebungen abhängen, damit die Vorschrift in sich stimmig ist, kann hier aber dahinstehen. Denn es fehlt bereits an tatsächlichen Anhaltspunkten, die eine der zahlreichen Annahmen rechtfertigen könnten.

Die sehr lange zurückliegenden, im Asylverfahren vorgebrachten Aktivitäten vor der Einreise können dafür kaum herhalten (vgl. Berlit a.a.O. RdNr. 81 f und 139 zu § 11 StAG). Sie waren wie die Bestrebungen der unterstützten FIS schon nicht auf die freiheitliche demokratische Grundordnung - wie in § 10 Abs. 1 Nr. 1 StAG - "des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland" bezogen (vgl. Berlit a.a.O. RdNr. 80 zu § 11 StAG), sondern auf Algerien. Auch wenn die FIS als Ableger der Muslimbruderschaft gilt, die eine Internationalisierung ihrer Ideologie einer nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbarenden islamischen Gesellschaft anstrebt (Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg 2004, S. 31 ff, 41 f), folgt daraus nicht, dass FIS-Anhänger in Deutschland ernsthaft auf die Errichtung einer solchen - wenn auch für sie wünschenswerten - Gesellschaft hinarbeiten. Noch weniger gilt dies für den Kläger, der bei seiner Anhörung im Jahr 1993 als Ziele der FIS angab, sie sei gegen Terrorismus und Korruption sowie für Sicherheit des Volkes mit einer ordnungsmäßigen Justiz, und der in Deutschland mit dem Verein L'Éspoir letztlich solche Ziele in seiner algerischen Heimat anstrebte. Selbst die aus seiner bloßen Teilnahme an den FIS-Veranstaltungen 1996 und 1997 gefolgerte Unterstützung der Ziele der FIS hat insoweit keine Aussagekraft, erst recht nicht der Hinweis, dass die der FIS zugerechnete terroristische GIA in einem Redebeitrag als Handlanger der algerischen Regierung bezeichnet wurde.

Dass der Kläger mit der FIS deren militante Flügel oder Abspaltungen oder wiederum deren Ziele unterstützt hat und damit auch gegen die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtete oder auswärtige Belange gefährdende Bestrebungen, wird von ihm nicht angenommen und auch glaubhaft verneint. Diese Kräfte kamen erst zur Entfaltung, als im Jahr 1992, in dem der Kläger schon nach Deutschland kam, die Wahlerfolge der FIS zu deren Verbot und zum Ausruf des Ausnahmezustands führten.

Für den Fall einer trotz allem gegenteiligen Wertung ist glaubhaft gemacht, dass sich der Kläger von früheren - unterstellten - Unterstützungen abgewandt hat. Dies gilt selbst dann, wenn für das Abwenden über das Unterlassen hinaus ein innerer Vorgang verlangt wird, obwohl für die Annahme der vorausgegangenen Unterstützung tatsächliche Anhaltspunkte ausreichen können, also eine entsprechende innere Einstellung nicht einmal vorauszusetzen ist. Dabei bedarf es ebenfalls einer würdigenden Gesamtschau, ausgerichtet an Art, Gewicht, Häufigkeit und Zeitpunkt der Handlungen, nach der mit hinreichender Gewissheit zukünftig die Verfolgung oder Unterstützung der inkriminierten Bestrebungen - auch in Ansehung der durch die Einbürgerung erworbenen gesicherten Rechtsposition - auszuschließen ist (vgl. VGH Baden-Württ. a.a.O. und Beschl. v. 13.12.2004 a.a.O.; Berlit a.a.O. RdNr. 152 und 158 f zu § 11 StAG).

Hiernach besteht auch kein Anlass daran zu zweifeln, dass sich der Kläger entsprechend den schriftlichen Erklärungen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt und die inkriminierten Bestrebungen nicht verfolgt oder unterstützt (hat) bzw. sich davon abgewandt hat (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 StAG, BW-StAR-VwV zu Nr. 85.1.1.1), soweit dies über die Abgabe der entsprechenden Erklärungen hinaus überhaupt zu prüfen ist (verneinend Berlit a.a.O. RdNr. 125 ff zu § 10 StAG; a.A. VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.12.05 - 13 S 2948/04). Sind die Ausschlussgründe nach § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG zu verneinen, so könnte es für die Erklärung hierzu allenfalls noch um die Bestätigung des Einbürgerungsbewerbers gehen, dass nicht nur "tatsächliche Anhaltspunkte" fehlen, sondern auch tatsächlich keine inkriminierten Bestrebungen verfolgt oder unterstützt wurden. Gibt er aber diese Erklärung ab, so wäre sie wiederum nur auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte in Frage zu stellen, was erneut zur Prüfung der Ausschlussgründe und damit im Kreise führen würde. Einen Sinn könnte die Erklärung zwar für später bekannt werdende gegenteilige Anhaltspunkte und daraus zu ziehende Konsequenzen geben, nicht aber für die anstehende Entscheidung über die Einbürgerung. Für diese bleibt höchstens die Frage, ob das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zutrifft, weil es entweder nicht verstanden oder wahrheitswidrig abgegeben wurde, was hier jedenfalls zu verneinen ist.

II. Der Kläger erfüllt ferner die Einbürgerungsvoraussetzungen des § 8 StAG und inzwischen aufgrund der Einbürgerung seiner Ehefrau auch des § 9 StAG einschließlich der Vorgaben für die Handhabung des Ermessens bezüglich Sprachkenntnissen, Aufenthaltsdauer und -titel, Loyalitätserklärung und Prüfung entgegenstehender erheblicher Belange (BW-StAR-VwV Nr. 8.1.2.1 bis 8.1.2.5 und zu 9.1.3).