OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 10.11.2006 - 3 Bs 197/05 - asyl.net: M9544
https://www.asyl.net/rsdb/M9544
Leitsatz:

1. Das Aufenthaltsgesetz enthält keine gesetzliche Grundlage für einen Anspruch gegenüber der Ausländerbehörde, durch Verwaltungsakt festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG besteht.

2. Der Beschwerdesenat sieht die Frage als offen an, ob Bosnier, die sich auf eine bürgerkriegsbedingte Traumatisierung berufen und im Falle einer Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina eine erhebliche Verschlimmerung ihres psychischen Gesundheitszustands befürchten, damit eine Gefahr geltend machen, der die Bevölkerungsgruppe der geflüchteten (traumatisierten) Bosnier allgemein ausgesetzt ist mit der Folge, dass die Anwendbarkeit von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch die Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesperrt wird (Abgrenzung zu OVG Hamburg, Beschl. v. 18.8.2004 - 3 Bs 308/04 - zu § 53 Abs. 6 AuslG 1990).

3. Weil Bosnien und Herzegowina Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, besteht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nur dann, wenn dem Ausländer dort nach seiner Abschiebung schwere und irreparable Menschenrechtsverletzungen drohen (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 7.12.2004, BVerwGE Bd. 122 S. 271 = InfAuslR 2005 S. 276).

 

Schlagwörter: Bosnien-Herzegowina, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Verwaltungsakt, Feststellung, Ausländerbehörde, Prüfungskompetenz, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Vorwegnahme der Hauptsache, einstweilige Anordnung, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Unterzeichnerstaat, menschenrechtswidrige Behandlung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 5; GG Art. 2 Abs. 2 S. 1; VwGO § 123
Auszüge:

1. Das Aufenthaltsgesetz enthält keine gesetzliche Grundlage für einen Anspruch gegenüber der Ausländerbehörde, durch Verwaltungsakt festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG besteht.

2. Der Beschwerdesenat sieht die Frage als offen an, ob Bosnier, die sich auf eine bürgerkriegsbedingte Traumatisierung berufen und im Falle einer Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina eine erhebliche Verschlimmerung ihres psychischen Gesundheitszustands befürchten, damit eine Gefahr geltend machen, der die Bevölkerungsgruppe der geflüchteten (traumatisierten) Bosnier allgemein ausgesetzt ist mit der Folge, dass die Anwendbarkeit von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch die Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesperrt wird (Abgrenzung zu OVG Hamburg, Beschl. v. 18.8.2004 - 3 Bs 308/04 - zu § 53 Abs. 6 AuslG 1990).

3. Weil Bosnien und Herzegowina Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, besteht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nur dann, wenn dem Ausländer dort nach seiner Abschiebung schwere und irreparable Menschenrechtsverletzungen drohen (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 7.12.2004, BVerwGE Bd. 122 S. 271 = InfAuslR 2005 S. 276).

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

2. Die Beschwerdegründe greifen nicht durch. Sie rechtfertigen keinen Erfolg des Beschwerdeantrags (a) und begründen keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses (b).

a) Der mit Beschwerde - trotz der insoweit bereits vom Verwaltungsgericht einleuchtenderweise vorgenommenen korrigierenden Auslegung des gleich lautenden erstinstanzlichen Begehrens - erneut gestellte Antrag, "die Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zur Feststellung zu verpflichten, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 AufenthG zu Gunsten des Antragstellers bestehen", kann keinen Erfolg haben. Er zielt auf eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Erlass eines feststellenden Verwaltungsaktes, worauf der Antragsteller - erst recht im Wege der einstweiligen Anordnung - keinen Anspruch hat. Das Aufenthaltsgesetz sieht - anders als das Asylverfahrensgesetz in § 31 Abs. 3 bei Entscheidungen des Bundesamtes über Asylanträge - nicht vor, dass die Ausländerbehörden förmliche Feststellungen über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten treffen.

Erst recht kommt es nicht in Betracht, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zum Erlass des genannten feststellenden Verwaltungsakts zu verpflichten. Damit würde die Hauptsache vollständig vorweggenommen, was mit dem vorläufigen Charakter einstweiliger Anordnungen regelmäßig - und so auch hier - nicht zu vereinbaren ist (zu möglichen, hier nicht vorliegenden Ausnahmen vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 123 Rdnrn. 14 ff.).

b) Das Beschwerdegericht nimmt zu Gunsten des Antragstellers an, dass die Beschwerde hilfsweise auch in dem - so in erster Instanz bereits vom Verwaltungsgericht verstandenen und sachgerechten - Sinne gemeint sein soll, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig die Abschiebung des Antragstellers nach Bosnien und Herzegowina zu untersagen. Sie bleibt mit diesem Begehren ebenfalls ohne Erfolg. Die Beschwerdegründe lassen nicht erkennen, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon abgesehen hätte, eine solche Anordnung zu erlassen; sie machen (wie bereits das erstinstanzliche Vorbringen) nicht glaubhaft, dass der Antragsteller aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Bosnien und Herzegowina abgeschoben werden dürfte.

bb) Soweit die Beschwerde geltend macht, die psychische Erkrankung des Antragstellers könne entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts ausweislich der Lageberichte des Auswärtigen Amtes in Bosnien und Herzegowina nicht sinnvoll therapiert werden, und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge ein Anspruch, die ärztliche Behandlung einer schweren Erkrankung im Bundesgebiet fortsetzen zu können, falls dies im Heimatland des Ausländers nicht möglich sei, führt auch dies nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für ein Abschiebungsverbot anzulegenden Maßstäbe zutreffend dargestellt (BA, S. 4) und eine derartig gravierende Bedrohung der Gesundheit des Antragstellers nicht erkennen können. Diese Einschätzung vermag die Beschwerde nicht zu erschüttern. Sie macht nicht glaubhaft, dass der Antragsteller an einer schweren psychischen Erkrankung leidet, die bei fehlender Therapie ein solches Gefahrenpotential in sich birgt; auch die in erster Instanz vorgelegten Atteste lassen darauf nicht schließen.

dd) Die Beschwerde dringt schließlich auch nicht durch, soweit sie geltend macht, eine Abschiebung des Antragstellers sei eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, da hierfür laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits eine bloße Verschlechterung der Lebenssituation eines Ausländers als Folge unzureichender medizinischer und sozialer Versorgung genüge und der mit einer Abschiebung verbundene plötzliche Entzug der Ressourcen medizinischer Behandlung im Bundesgebiet zu einer solchen Verschlechterung führe. Daraus ergibt sich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK.

(1) Die Abschiebung eines Ausländers in einen Staat, der nicht Mitglied des Europarats und Unterzeichner der EMRK ist, und in welchem dem Ausländer eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht, ist nach § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig. Allerdings stellt nicht die Abschiebung selbst eine unmenschliche Behandlung durch den Vertragsstaat dar; die seinerseits beabsichtigte Abschiebung begründet jedoch dessen Verantwortlichkeit und die Pflicht zum Unterlassen der Abschiebung, wenn dem Ausländer in dem Nicht-Vertragsstaat eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung im Sinne von Art. 3 EMRK droht und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.12.2004, InfAuslR 2005 S. 276, 277). Diese Grundsätze sind allerdings bei einer Abschiebung in einen Vertragsstaat nur eingeschränkt anwendbar: Hier steht die eigene Verantwortung des Zielstaats als Vertragsstaat für die Einhaltung der Konventionsrechte (vgl. Art. 1 EMRK) im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Staats, den menschenrechtlichen Mindeststandard im Zielstaat der Abschiebung zu wahren, besteht demnach nur dann, wenn dem Ausländer dort nach seiner Abschiebung schwere und irreparable Menschenrechtsverletzungen drohen (vgl. BVerwG, a. a. O., S. 278). Bosnien und Herzegowina ist Vertragsstaat der EMRK, die dort seit dem 12. Juli 2002 in Kraft ist (vgl. BGBl. II 2006, Fundstellennachweis B, Stand 31.12.2005 S. 349 ff.). Dementsprechend wäre die Antragsgegnerin nur dann nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK dazu verpflichtet, von einer Abschiebung des Antragstellers nach Bosnien und Herzegowina abzusehen, wenn ihm dort schwere und irreparable Menschenrechtsverletzungen drohten. Dafür ist nichts ersichtlich.

(2) Im Übrigen legt auch der EGMR strenge Maßstäbe (zu Lasten des abzuschiebenden Ausländers) bei der Frage an, ob bei Erkrankungen eine Abschiebung (in einen Nicht-Vertragsstaat) mit der Verantwortlichkeit des Abschiebestaats nach Art. 3 EMRK noch zu vereinbaren ist. Im Fall eines psychisch kranken Algeriers, der geltend gemacht hatte, in Algerien nicht die erforderliche medikamentöse und ärztliche Versorgung zu erhalten, hat der EGMR ausgeführt (Urt. v. 6.2.2001, InfAuslR 2001 S. 364, 366):

"40 Der Gerichtshof anerkennt den Ernst des medizinischen Zustands des Antragstellers. In Anbetracht der hohen Schwelle des Art. 3 EMRK, insbesondere in jenen Fällen, in denen nicht die unmittelbare Verantwortung des Vertragsstaates für die Zufügung des Leides betroffen ist, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass keine hinreichende Gefahr besteht, dass die Abschiebung des Antragstellers unter diesen Umständen den Anforderungen des Art. 3 EMRK zuwiderläuft. Der Fall enthält nicht die außergewöhnlichen Umstände des Falles D. (= Urt. v. 2.5.1997, InfAuslR 1997 S. 381, 382, § 49), in dem der Antragsteller im letzten Stadium einer tödlichen Krankheit, AIDS, war und keine Aussicht auf medizinische Behandlung oder familiäre Unterstützung im Fall seiner Abschiebung nach St. Kitts gehabt hätte.

41 Aus diesen Gründen erachtet der Gerichtshof, dass die Vollstreckung der Entscheidung, den Antragsteller nach Algerien zu verbringen, Art. 3 EMRK nicht verletzen würde."

Angesichts dessen ist nicht anzunehmen, dass der EGMR die Abschiebung des Antragstellers nach Bosnien und Herzegowina als Verletzung von Art. 3 EMRK einstufen würde.