VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 24.01.2007 - 20 K 4697/05.A - asyl.net: M9548
https://www.asyl.net/rsdb/M9548
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Änderung der Sachlage, Reformen, politische Entwicklung, Menschenrechtslage, Folter, PKK, Unterstützung, Verdacht der Unterstützung, Kurden, Terrorismusvorbehalt, Strafurteil, Wiederholungsgefahr, Zukunftsprognose, Beurteilungszeitpunkt, Drogendelikte, Bewährung, Strafrestaussetzung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; StGB § 56; StGB § 57 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die materiellen Voraussetzungen für den verfügten Widerruf der Asylanerkennung und der Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) besteht, liegen nicht vor.

Gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 S. 1 AsylVfG sind vorbehaltlich des Satzes 3 die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung und des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) weiterhin vorliegen. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei derart geändert hätten, dass der vorverfolgt ausgereiste Kläger vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher wäre.

Die erforderliche hinreichende Verfolgungssicherheit folgt insbesondere nicht aus den zahlreichen in den letzten Jahren in der Türkei durchgeführten Reformen und die nicht zu bestreitende deutlich verbesserte Menschenrechtslage, wie dies in dem angegriffenen Bescheid und im Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. November 2005 - 4 K 3870/06.A -, auf das sich die Beklagte beruft, angenommen wird.

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. Ganz konkret wurden die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, die eine politische Verfolgung durch den Staat ausschließen sollen. Namentlich sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2006 - 15 A 2202/00.A -; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A; zur Rückkehrgefährdung ehemaliger PKK-Aktivisten auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23. Februar 2006).

Die türkische Reformpolitik hat bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen.

Von einer verfestigten und nachhaltigen Veränderung der Sicherheitslage in der Türkei mit der Folge hinreichender Verfolgungssicherheit für einen ehemals unter Verfolgungsdruck ausgereisten kurdischen Flüchtling bei Rückkehr in die Türkei kann bei dieser Auskunftslage nicht gesprochen werden (ebenso: VG Düsseldorf, Urteile vom 19. September 2006 - 26 K 3635/06.A -, vom 28. Juni 2006 - 20 K 5937/04.A - und vom 12. Mai 2006 - 26 K 1715/06.A -; a.A. VG Düsseldorf, Urteil vom 30. November 2006 - 4 K 3870/06.A - und VG Ansbach, Urteil vom 15. August 2006 - AN 1 K 06.30232 - Juris).

Dies gilt auch im konkreten Fall des Klägers, der nach den Feststellungen im rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vor seiner Ausreise im Jahre 1990 dem Verdacht ausgesetzt war, Sympathisant der PKK zu sein, weil er als Guerillas verkleidete Soldaten u.a. mit Lebensmitteln versorgt hat. Er ist demnach seinerzeit den örtlichen Sicherheitsbehörden individuell in das Blickfeld geraten und deshalb möglicherweise auch heute noch individuell registriert. Selbst wenn man in Übereinstimmung mit dem oben zitierten Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. November 2006 davon ausgehen will, dass der türkische Staat gegenwärtig nicht mehr individuell gegen jeden vorgehen kann und will, der damals wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK mit Lebensmitteln und Ähnlichem aus dem Heimatdorf vertrieben worden ist, und dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, bei der Abschiebung oder der Einreise im Zuge der dabei stattfindenden Vernehmung Opfer einer Misshandlung oder der Folter zu werden, so ist doch festzuhalten, dass die seinerzeitige Registrierung über die Jahre hinweg und auch außerhalb der östlichen Landesteile der Türkei noch zu einer Befragung führen kann, etwa bei einer Kontrolle an den Zugangsstraßen zu den von Kurden bewohnten Stadtviertel in der Westtürkei oder in diesen Stadtvierteln selbst. Über die Wahrscheinlichkeit bei einer solchen Befragung gefoltert oder misshandelt zu werden, lässt sich mangels gesicherter Erkenntnisse kaum eine Prognose treffen. Es verbietet sich deshalb die Annahme hinreichender Verfolgungssicherheit des Klägers bei einer Rückkehr ins Heimatland.

Ein Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nach § 73 Abs. 1 AsylVfG kommt auch nicht aus anderen Gründen in Betracht.

Allerdings ist die Anerkennungsentscheidung nicht nur bei Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Heimatland, sondern auch dann zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung deshalb nicht mehr vorliegen, weil der Ausländer nach der Anerkennung den Tatbestand des § 60 Abs. 8 AufenthG, dessen Satz 1 hier allein in Betracht kommt, verwirklicht hat. Nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG findet Abs. 1 dieser Vorschrift keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Diese Bestimmung schließt nicht nur den Anspruch auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG, sondern auch denjenigen auf Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG aus (vgl. zu der Vorgängervorschrift § 51 Abs. 3 AuslG: BVerwG, Urteil vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 - BVerwGE 109, 1).

Die rechtskräftige Verurteilung führt aber nur dann zum Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, wenn eine konkrete Wiederholungsgefahr besteht (vgl. hierzu näher BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185).

Das bedeutet, dass in Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit durch neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen muss; die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Straftaten genügt nicht (BVerwG, Urteile vom 16. November 2000 a.a.O. und vom 1. November 2005 a.a.O.).

Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind. Dies gilt in besonderem Maße für schwere Rauschgiftdelikte, namentlich den illegalen Heroinhandel, der regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden ist und in schwerwiegender Weise Gesundheit und Leben anderer Menschen gefährdet. Allein der Umstand, dass der Ausländer die Freiheitsstrafe verbüßt hat, lässt nicht auf einen Wegfall des Wiederholungsrisikos schließen. Denn rechtskräftige Verurteilungen im Sinne des § 51 Abs. 3 2. Alternative AuslG führen regelmäßig zur Verbüßung der Freiheitsstrafe, da eine Aussetzung ihrer Vollstreckung zur Bewährung nach § 56 StGB wegen der Strafhöhe von vornherein nicht in Betracht kommt. Würde der bloße mit der Strafverbüßung verbundene Zeitablauf regelmäßig zum Wegfall des Ausschlussgrundes führen, liefe die Vorschrift praktisch weitgehend leer. Dies gilt zumal in Asylverfahren, da es hier - anders als bei der Anfechtung einer rein ausländerrechtlichen Abschiebungsandrohung - im Falle eines Rechtsstreits maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) (BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 a.a.O.).

Auch der Umstand, dass der Täter zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt hat und die Vollstreckung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden ist, genügt für sich allein nicht ohne weiteres, um eine Wiederholungsgefahr zu verneinen. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 Abs. 1 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10; BVerfG, Kammerbeschluss vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 - DVBl 2000, 697).

Eine Vermutung für das Fehlen einer Rückfallgefahr im Sinne einer Beweiserleichterung begründen sie indes nicht.

Abgesehen davon, dass die für die Anwendung des § 51 Abs. 3 AuslG zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen haben und an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden sind (vgl. zu § 56 StGB BVerwG, Urteil vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 17.94 - a.a.O. S. 41), haben sie auch sonstige, den Strafgerichten möglicherweise nicht bekannte oder von ihnen nicht beachtete Umstände des Einzelfalles heranzuziehen.

Unter Anwendung dieser Grundsätze ist eine konkrete Wiederholungsgefahr zu verneinen. Maßgeblicher Auslöser für die begangene Straftat des Klägers waren die aus der Drogensucht entstandenen Schulden im Berufsspielermilieu, der aus diesem Umfeld ausgeübte Druck, die Schulden zurückzuzahlen und der Druck, sich die zur Finanzierung der Drogensucht weiterhin erforderlichen finanziellen Mittel zu beschaffen. Es handelte sich mithin um einen typischen Fall der Beschaffungskriminalität, die allerdings in der konkreten ausgeübten Form einer erheblichen kriminellen Energie bedurfte und Skrupellosigkeit offenbarte. Die äußeren Faktoren, die zur Begehung der Straftat führten, haben sich erheblich gewandelt. Aber auch der Kläger erscheint in seiner Persönlichkeit gefestigt und gewillt zu sein, das vor der Inhaftierung bzw. Unterbringung geführte Leben zu ändern.