OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.12.2006 - 18 B 2219/06 - asyl.net: M9577
https://www.asyl.net/rsdb/M9577
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Verlust, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, Unionsbürger, Unionsbürgerrichtlinie, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7; ARB Nr. 1/80 Art. 14; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3; FreizügG/EU § 6 Abs. 1
Auszüge:

Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg.

Der Aussetzungsantrag ist begründet. Bei der hier gebotenen Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers bis zum Abschluss des Klageverfahrens in Deutschland zu bleiben und dem öffentlichen Interesse daran, dass der ausreisepflichtige Antragsteller das Bundesgebiet (vorläufig) verlässt, kommt dem Interesse des Antragstellers gegenwärtig Vorrang zu.

Von dem Vorstehenden ausgehend ist die Ausweisung des Antragstellers nur rechtmäßig, wenn sie nicht aufgrund des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG ausgeschlossen ist. Danach darf gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn u.a. die Unionsbürger ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben. Eine derartige Festlegung ist bisher nicht geschehen. Sie soll durch das 2. ÄndG im FreizügG/EU erfolgen. Bis dahin ist nach dem Erlass des Bundesministeriums des Inneren vom 18. April 2006 - M I 1 - 937 115-65/12 - die Feststellung des Verlustes des Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht möglich.

Ob die vorstehende Regelung auch für türkische Staatsangehörige gilt, auf die Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 Anwendung findet, ist umstritten (bejahend Hess. VGH, Beschluss vom 12. Juli 2006 - 12 TG 494/06 -, InfAuslR 2006, 393; offen lassend Nieders. OVG, Urteil vom 16. Mai 2006 - 11 LC 324/05 -, InfAuslR 2006, 350; verneinend VG E. , Beschluss vom 20. September 2006 - 24 L 1310/06 -, Beschwerde anhängig beim OVG NRW unter 18 B 2219/06).

Zu Klärung der Frage hat das VG Darmstadt mit Beschluss vom 16. August 2006 - 8 E 1364/05 -, juris, eine Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH (dortiges Aktenzeichen: C-349/06) gerichtet. Sollte die Regelung anwendbar sein, so ist ungeachtet der in der Rechtsprechung ebenfalls umstritten Frage, ob nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht mit dem 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 der RL) die Richtlinie unmittelbar Anwendung findet (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 2. Dezember 2005 - 18 B 1529/05 - und vom 4. Oktober 2006 - 18 A 3084/06 -, Hess. VGH, Beschluss vom 12. Juli 2006 - 12 TG 494/06 -, a.a.O.; Nieders. OVG, Urteil vom 16. Mai 2006 - 11 LC 324/05 -, a.a.O.; VG E. , Urteil vom 4. Mai 2006 - 24 K 6197/04 -, InfAuslR 2006, 356), in Erwägung zu ziehen, dass die gegen den Antragsteller verhängte Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten kaum auf "zwingende Gründe" im Sinne von Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG führen dürften.

Nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort nach Art. 2 zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU können zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.

Damit ist derzeit offen, ob die Ausweisung des Antragstellers rechtlich Bestand haben wird.